Das Auge isst man mit
"Das erste Mal fuhr ich nach Zagreb, um eine Gruppe trauriger Gelehrter zu besuchen und ein Auge zu verspeisen." So beginnt die dritte der vier Reisen, die Karl-Markus Gauß in "Zwanzig Lewa oder tot" beschreibt. Die übrigen drei führen ihn nach Moldawien, nach Bulgarien und in die Heimat seiner Mutter, die Bacska.
Die traurigen Gelehrten sind sieben Mitglieder der Miroslav Krleža-Gesellschaft; das erste Mal Zagreb ist für Gauß das Jahr 1986, eine halbe Dekade nach Titos Tod und eine weitere vor der Sezession Kroatiens. Gauß ist eingeladen, weil er sich, welchem Impetus auch immer gehorchend – und sei es nur seinem Pflichtbewusstsein als Kritiker – einem Autor verschrieben hat, der in dessen Heimat sehr viel und im übrigen Europa so gut wie nichts gilt. Gauß hält Krleža für nichts weniger als ein "Jahrhundertgenie", der "alle wichtigen geistigen Strömungen des 20. Jahrhunderts vorweggenommen" hat, und äußert dies in Buchbesprechungen, in Radiobeiträgen und auf Tagungen. Die Kunde ist offenbar bis Zagreb gedrungen.
Besteht also Hoffnung, dass die wichtigste Stimme Kroatiens (damals durfte es schon ein wenig Regionalpatriotismus sein, vom tumben Nationalismus der Tudjman-Ära war man noch weit entfernt) auch im Westen gehört wird? Gauß ist in Begleitung zweier Unterstützer angereist. Lojze Wieser hat kürzlich seinen Verlag in Klagenfurt gegründet und seinen Lektor gleich mitgebracht. Ludwig Hartinger ist nebenbei auch Übersetzer. Später wird er den slowenischen Dichter Srečko Kosovel ins Deutsche übertragen und zeigen, was möglich ist.
Gegenseitig wird Respekt gezollt, geschmeichelt, geworben, nicht nur mit Worten. Als Höhepunkt karren die Gastgeber ein knusprig gebratenes Lamm in den Saal; für Kroaten, die sich einer fleischlastigen Küche rühmen, eine Delikatesse. Als wäre dies nicht schon Anerkennung genug, wird dem illustresten Mitglied der Gästeschar ein ganz besonderer Leckerbissen serviert. "So viel war klar, das Auge, das mir gereicht wurde, würde ich verzehren, ich würde es zerkauen und hinunterschlucken müssen, da gab es kein Entrinnen", erinnert sich Gauß an "die glibberige Masse, die aber von fester Konsistenz war, wie ein schlabberiger Gummi."
Leider verrät Gauß nicht, wer das zweite Lammauge verspeiste. War dieser Kelch an Wieser und Hartinger vorübergegangen? Und beiden nur die Rolle des teilnahmsvollen Beobachters geblieben? Mit der Unbekümmertheit aller Geradenochmaldavongekommenen beschieden sie ihrem Begleiter, es sei dessen "Pflicht", "für die kroatisch-österreichische Verständigung, den mitteleuropäischen Kulturaustausch, die Freundschaft unter allen Menschen guten Willens zu tun, was von mir erwartet wurde." Am Ende folgte der aktive Teil des Trios dem Postulat einer österreichischen Landsfrau, die Pflicht möge so lange ausgeübt werden, bis sie eine Freude wäre – mit dem Resultat, dass die Opferspeise "bis heute in meinem vegetativen Gedächtnis rumort."
Die posthume Anerkennung hat der Avantgardist Krleža nicht mehr bekommen, sämtlichem Gauß'schen Einsatz' zum Trotz. Vielleicht war die Ignoranz auch dem Umstand geschuldet, dass mit Ivo Andrić ein zweiter großer jugoslawischer Schriftsteller bereits 1961, zwanzig Jahre vor Krležas Tod, den Nobelpreis gewonnen hatte, als einziger Literat der Föderation. Oder es lag daran, dass Lojze Wieser erst im zwanzigsten Verlagsjahr ein Werk Krležas herausbrachte; da hatte er vorher bereits 515 von anderen Autoren veröffentlicht.
Es gab schon einmal eine Zagrebanekdote, die sich um Augen drehte. Auch darauf geht Gauß ein. Curzio Malaparte, Faschist der ersten Stunde, dann in Ungnade gefallen, später aber von Mussolini rehabilitiert, durfte sich frei in allen von Deutschen und Italienern besetzten und mit ihnen verbündeten europäischen Ländern bewegen. In Zagreb besuchte er Ante Pavelić, auf dessen Verantwortung die Einrichtung des Konzentrationslagers Jasenovac und die Ermordung Hunderttausender Serben, Roma und Juden ging. Beim Empfang, schreibt Malaparte, habe eine Schale auf dem Tisch gestanden, gefüllt mit den ausgestochenen Augen von Opfern Pavelićs. Malapartes Buch "Kaputt" wurde ein Reißer und machte seinen Verfasser reich.
Die Geschichte mit den Augen, gab Malaparte später zu, war erfunden. Zu Recht kritisiert Gauß den literarischen Trittbrettfahrer, der sich nicht mit den Fakten des ohnehin vorhandenen Schreckens aufhielt, sondern zur Steigerung der Auflage sensationsgierbedienende Details herbeizufantasieren sich genötigt sah: "Der Mechanismus der Überbietung, von dem wir in der medialen Gesellschaft mit Verbrechen, Katastrophen, Unglücksfällen in Echtzeit und mittels Bildern aus intimer Nähe traktiert werden und traktiert zu werden begehren, muss immer drastischere Bilder ausstoßen und fortwährend neues Grauen finden oder erfinden."
Gauß' Buch ist wohltuend anders. Der Autor bleibt bei den Tatsachen, schildert, was er sieht, hört und erlebt, alles in einer Sprache, die so lebendig ist, dass es keiner Effekthascherei bedarf. Die Reisen in das den meisten Lesern immer noch unbekannte Südosteuropa erscheinen exotisch genug, um zu vertiefen, was ist, ohne die Klischees derer zu bedienen, die es gerne etwas boulevardesker hätten. Nebenbei räumt Gauß, ein Meister des Erzählens, mit manchem Vorurteil auf: etwa dem des Zigeunerpaten, der Kinder für sich betteln lässt und das Geld für sich einstreicht. Die Geschichte, die dem Buch zu ihrem Titel verholfen hat, beginnt so, wie der Westtourist sie sich in stereotyper Sichtweise vorstellen mag, und nimmt dann eine überraschende Wendung. Die soll an dieser Stelle aber nicht verraten werden.
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