Zafer Şenocak: Deutschsein

Erkenne Dich selbst, Deutschland

Der in Berlin lebende Schriftsteller und Journalist Zafer Şenocak analysiert in seinem jüngsten Buch Deutschland vor dem Hintergrund des Umgangs mit Migration. Das Thema entpuppt sich als Schlüssel zu ebenso interessanten wie überraschenden Einsichten, mit Hilfe derer nicht nur Rationalität in die verworrene Migrationsdebatte zu bringen und die festgefahrene Situation zu durchbrechen wäre, sondern die Deutschen auch sich selbst besser verstehen könnten. Dazu ist allerdings Aufrichtigkeit notwendig. Statt dessen versperrt die emotional und unsachlich geführte Integrationsdebatte den Blick. Şenocak ruft dazu auf, in einer neuen Sprache miteinander zu reden, "in der nicht Mission und Propaganda betrieben, sondern kommuniziert wird, die das Fremde nicht diffamiert, sondern übersetzt" (S. 187). Doch wer zu anderen sprechen will, "muss in der Lage sein, einen kritischen Dialog mit sich selbst zu führen." An dieser Fähigkeit jedoch fehlt es in Deutschland.

Als Spätfolge des Scheiterns der Weimarer Republik, der Verbrechen der Nazizeit, deren Aufarbeitung und der deutschen Teilung ist den Deutschen eine "spezielle Brüchigkeit, Verletzlichkeit" (S. 27) ihrer Identität und ihres Nationalgefühls geblieben. Deutschland ist ein "wirtschaftlicher Koloss" und doch ein zart besaiteter Riese, "ein manisch-depressives wie emsiges Volk, das auch sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung keineswegs mit sich selbst im Reinen ist." (S. 114) Ängste und Unsicherheiten, die sich daraus ergeben, werden jedoch nicht mehr thematisiert, statt dessen aber in Diskussionen auf "den anderen", d.h. den Einwanderer projiziert. Anstatt über die eigene Unsicherheit zu sprechen, diskutiert man die Probleme "der anderen". Der Integrationsdiskurs ist nur scheinbar rational, denn um wirklich rational zu sein, müsste auch die "wunde Stelle" (S. 28) in der deutschen Identität zur Sprache kommen, da sie die Deutschen so verletzlich macht. Die Deutschen sind nicht die "homogene, unverletzliche Einheit", als die sie sich im Migrationsdiskurs gerne fantasieren, und waren es noch nie. "Sie, die Einheit aber ist lediglich ein Gefühl, eine fragmentierte Erinnerung an Traditionen und den Geschmack des Zusammenhalts". Im Gegenzug werden auch die Migranten als einheitliche Gruppe imaginiert, vor allem werden die vier Millionen Muslime über einen Kamm geschoren. Erst die Deutschen stilisierten den Islam zum wichtigsten Identitätsmerkmal von drei Millionen Menschen mit türkischem kulturellem Hintergrund.

Vordringlichste Aufgabe also ist, die deutsche Identität und das deutsche Nationalgefühl ohne Rücksicht auf tabuisierte Bereiche zu diskutieren. Tabuisierte Wörter sind z.B. Heimat, Volk, Volksgemeinschaft. Diese Begriffe wurden in der Vergangenheit missbraucht und "mit Blut befleckt" (S. 38). "Die Volksgemeinschaft ist in Deutschland kein Rückzugsort, sondern ein Schlachtfeld. Sie wirft einen dunklen Schatten auf den Volksbegriff. Er ist aber in Einwanderungsfragen ein Schlüsselbegriff." (S. 38f) Trügen die Deutschen aber Frieden anstelle eines Schlachtfeldes in sich, dann könnten sie auch dem Fremden "sicher und gelassen" gegenübertreten. Auch die deutsche Sehnsucht nach Heimat steht auf dem Prüfstand, ist sie doch eine Spätfolge der Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und der Massenvertreibungen. Bei der unstillbaren Sehnsucht nach Heimat, Harmonie und Geborgenheit können Fremde nur stören. Wirklich "zu Hause" ist man, "wenn man einen Fremden bei sich unterbringen kann." (S. 55) Nicht die Migranten lassen die Deutschen sich "fremd im eigenen Haus fühlen", wie man das in so mancher Migrationsdebatte hört, sondern die Deutschen haben keinen Platz für andere, da sie sich aufgrund ihrer eigenen Geschichte nirgendwo zu Hause fühlen.

Die deutsche Geschichte hält für manche überraschende Entdeckungen bereit, so das "innige Verhältnis" (S. 33) der deutschen Aufklärung und Romantik zur islamischen Kultur, die heute regelrecht zum Gegenpol alles Europäischen stilisiert wird. Wer heute eine deutsche oder europäische Identität als christlich-abendländisch entwirft und Muslime daraus ausschließt, geht selbst hinter den allgemein-menschlichen Charakter der Aufklärung zurück, der genau dieses Denken überwand. Die jüdische Emanzipation als eine Folge der Aufklärung bezeichnet Şenocak als eine der "großen Blütezeiten der menschlichen Zivilisationserfahrung" (S. 115) Vielleicht böte die verstärkte Besinnung auf diesen Aspekt der deutschen Geschichte eine Perspektive zum Umgang mit dem Fremden und mit Einwanderung und würde den Deutschen helfen, Moscheen als genauso selbstverständlich zu empfinden wie Synagogen, außerdem die Religionszugehörigkeit eines Menschen weniger in den Vordergrund zu stellen und so den Islam nicht als Angriff auf die deutsche Identität wahrzunehmen.

Şenocaks Buch ist ein leidenschaftlicher Appell, den "Zustand der Lüge und der Selbsttäuschung" (S. 34) aufzugeben und den Knoten durch "sehr viel Ehrlichkeit" zu lösen. Es wäre endlich an der Zeit, zu erkennen, dass ein Land, das mit Fremden nur aus sicherer Distanz kommunizieren kann, das sich vor Einwanderung ängstigt und die Aufnahme von Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund verweigert, sich selbst die Zukunft versperrt.

Und zum Schluss noch ein vielsagendes Zitat: "Gleichheit widerstrebt der menschlichen Natur. Die Verschiedenheit ist der Ursprung von Individualität. Menschliche Vielfalt ist Schönheit und Fluch zugleich." (S. 42) In Deutschland ist nicht die Heimat bedroht, sondern die offene Gesellschaft.

Deutschsein
Deutschsein
Eine Aufklärungsschrift
190 Seiten, gebunden
EAN 978-3896840837

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