Irgendwo zwischen «Eppelwoi-Seeligkeit» und «Mainhatten»
Pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag legt Wilhelm Genazino den Erzählband «Tarzan am Main» vor. Für seine «Spaziergänge in der Mitte Deutschlands» macht Genazino Frankfurt am Main zum Ausgangs- und Mittelpunkt. Es ist die Stadt, an deren Universität er einst Germanistik, Philosophie und Soziologie studiert und beim Satireblatt «pardon» als Redaktor gearbeitet hat. Inzwischen lebt der gebürtige Mannheimer bereits seit vielen Jahren in Frankfurt am Main - eine Tatsache, über die sich eine grosse Anzahl Menschen wundert: «Ich gehe nicht mehr auf dieses Erstaunen ein, weil es auf zu komplizierten und gleichzeitig banalen Voraussetzungen beruht. Eine der häufigsten dieser (falschen) Voraussetzungen besteht in dem Urteil, Frankfurt sei hässlich, abstoßend, ordinär, spießig, kurz: ungenießbar.»
Ein Urteil, das Genazino, der neben vielen bedeutend(er)en Preisen 1995 auch mit dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet worden ist, in den insgesamt 46 Texten sowohl zu widerlegen als auch - bewusst oder unbewusst - zu bestätigen versucht. Es ist schliesslich auch die Sicht von oben, die einen etwas fahlen Nachgeschmack zurück lässt und diese "falsche Voraussetzung’ bedient, denn «wer in einem Flugzeug sitzt und sich langsam der Stadt Frankfurt am Main nähert, wird Opfer einer Blendung.»
Ist man mittendrin, lebt es sich in der Skurrilität ganz wunderbar. Eine Skurrilität, die entsteht aus dem Bestreben nach amerikanischer Grossstadt («Mainhatten»), das dank einigen Hochhäusern einem Vergleich standhalten soll und der Rückbesinnung auf ländliche Traditionen und Verbundenheit («Eppelwoi» (Apfelwein)). Ein Spagat, der manchmal glückt und manchmal misslingt. «Tarzan am Main» ist nicht nur die Geschichte über Schönheit, Status und Verhängnis einer Stadt, sondern viel mehr die Geschichte Genazinos, der erst als junger, dann als gestandener und heute als alternder Mann und Autor einen Weg durch Frankfurt am Main und sein eigenes Leben sucht und schlägt.
Nach dem zweiten Weltkrieg war auch Frankfurt am Main flächendeckend zerstört. Beim Wiederaufbau gab es kein einheitliches Konzept. Das Ziel des raschen Aufbaus war einzig und allein, die Stadt so schnell wie möglich wieder bewohnbar zu machen. In dieser Zeit des Wiederaufbaus wuchs Genazino in der Nachbarsstadt Mannheim auf, überzeugt davon, dass ein neuer Krieg bevorstünde. Mit seinen Vermutungen auf wenig Gehör gestossen, bereitete sich der Junge mithilfe von Tarzan-Heften eigenhändig auf das anbrechende Ereignis vor. Günther und Ingeborg waren mit dabei und Tarzan am Main geboren - in einer Baumhütte und sich mit Lianen von Baum zu Baum schwingend würden sie den Krieg gemeinsam überleben.
Mit dem Fortschreiten der Texte, die teilweise aneinander anknüpfen und meist von Genazino und seinen Beobachtungen handeln, rückt die Altersfrage in den Vordergrund. «Schon seit längerer Zeit bin ich bereit, mich an mein Verschwinden als Autor und Person zu gewöhnen» oder «die meisten alten Schriftsteller wollen auf keinen Fall als Rentner gelten, obwohl ihnen nichts zu einem solchen fehlt, nicht die Müdigkeit, nicht die Erschöpfung, nicht die Depression, nicht die Krankheiten, nicht das Ruhebedürfnis, nicht der Überdruss am Kulturbetrieb.» heisst es da.
Von der eigenen schwindenden Toleranz handelt ein Text am Ende des Buches, in dem Genazino die «private Form des Alterns» erläutert. In der U-Bahn stösst sich der Autor beispielsweise an den zwei jungen Männern, die ihre Fahrräder in den freien Raum zwischen den beiden Ausgängen stellen und an den vielen Sprachen, die er nicht versteht. Dankbar nimmt man als Leser die Worte «früher hätte ich das nicht einmal bemerkt» und die Erklärung von «Altersreizung» hin, denn diese leise Missstimmung, diese Vorwürfe, die gegen aussen vorgeben, keine zu sein, ziehen sich durch das ganze Buch hindurch. Nicht selten bleibt man am Gedanken hängen, ob dem jungen Genazino die übervollen Parkanlagen mit ihren Müttern und schreienden Kleinkindern genauso aufgefallen wären und ob er sich wirklich gestört hätte an den Radfahrern, "die dem Weg entlang rasen und von den Fussgängern erwarten, dass sie zur Seite treten".
Es sind Sätze, die teilweise etwas irritieren, gerade wegen dem mittelbaren Tadel, den sie beherbergen. Gleichzeitig stehen sie stellvertretend auch für die beeindruckende Ehrlichkeit, mit der Genazino seine Beobachtungen beschreibt. Nichts wird beschönigt, weder das Leben im Allgemeinen noch Frankfurt am Main. Und trotzdem ist «Tarzan am Main» ein überaus liebevolles Buch, das sich auch jenen empfiehlt, die Frankfurt am Main (noch) nicht kennen - lesend nähert man sich den Menschen und ihren Eigenheiten und der eigenen Schönheit dieser Stadt, die in ihrem "etwas zu gross geratenen Anzug herumläuft".
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