Die unberechenbare Vielfalt der Schöpfung
Hans Pleschinski, geboren 1956, als freier Autor in München lebend, nimmt sich in diesem Roman Gerhart Hauptmanns an, der zusammen mit Thomas Mann (über den Pleschinski den ganz wunderbaren Roman "Königsalleee" geschrieben hat) zu den grossen Figuren der deutschen Literatur (beide sind Nobelpreisträger) zählt. "Wiesenstein" beginnt im März 1945 mit dem Aufbruch des greisen und pflegebedürftigen Hauptmann und seiner Entourage (inklusive Masseur) vom Sanatorium Dr. Weidner im eben zerstörten Dresden nach Schlesien, in seine Villa "Wiesenstein", einem prächtigen Anwesen im Riesengebirge.
Ich staune, welche Ehrerbietung die Leute dem Dichter Hauptmann, der offenbar lange schwankte "zwischen der Poesie und dem Wunsch, ja, ein neuer Michelangelo zu werden" entgegenbringen. Ja, ich staune überhaupt, dass einem Dichter einmal Ehrerbietung entgegengebracht worden ist - solche Zeiten sind lange her. Allenthalben wird er "Herr Dr. Hauptmann" genannt, der vielfach Geehrte, der nun mit einem Pfleger auf dem eisigen Bahnhof steht. Es ist höchst beeindruckend wie es Hans Pleschinski gelingt, die damalige Simmung zu vermitteln.
Von Propagandaminister Dr. Goebbels (wieder ein Doktor) war Hauptmann zwar wenig geschätzt, von dessen Widersachern auf der Kulturbühne dafür (und auch deswegen) um so mehr. Und wie fürstlich der Mann gelebt hat! "Ein Lebenshöhepunkt - von Galadiners gerahmt - waren natürlich die Gerhart-Hauptmann-Festspiele in Breslau gewesen: 14 Stücke en suite füllten damals, in den Zwanzigerjahren, die Theater."
Dem Dichter war offenbar eine heftige Radikalität eigen. So lässt Hans Pleschinski die Sekretärin Annie Pollak sagen: "Vor dieser Lebensberuhigung hatte Hauptmann, pardon, wenn ich's so ausdrücke, gesoffen, randaliert. Jetzt wurde er - man kennt solche Umschwünge - zum strikten Abstinenzler." Worauf der Masseur Paul Metzkow meint: "Ich glaube, der Wunsch meldet sich beim Menschen und in der Geschichte regelmässig. Heute hui, morgen pfui. Erst Schwung durch Schnaps, dann Prohibition. Und dann wieder andersrum."
Dass Hauptmann, im Gegensatz zu seinem Nobelpreiskollegen Mann ("Der eine, Mann, war eher zerebral, der andere, Hauptmann, oft vulkanisch. - Gut, dass wir beide haben! Das ist ein geistiger Reichtum", so Hans Pleschinski in einem Gespräch mit seinem Lektor Martin Hielscher), nicht ins Exil ging, bedeutet nicht, dass er ein Nazi war, schon von seinem ganzen Wesen her, konnte er gar keiner sein. "Hauptmann sagt: Selbst wenn ich Antisemit wäre, so müsste es mich doch stutzig machen, dass Gott soviele Juden mit so zauberhaften Gaben beschenkt hat." Doch die Privilegien, die Hauptmann geniesst, sind nicht gratis. Natürlich benutzen ihn die Nazis für ihre Zwecke und scheuen auch nicht davor zurück, sinnentstellend in seinen Dresden-Appell, der das Kultur-Verbindende hervorhob, einzugreifen und in eine parteiische Beschuldigung der Alliierten umzuwandeln.
Ausser dem "Bahnwärter Thiel", den wir in der Schule durchgenommen hatten (und ich nicht erinnere), habe ich von Gerhart Hauptmann nichts gelesen. Von seinem Stück "Die Weber" habe ich gehört. Anders gesagt: "Wiesenstein" war für mich eine Einführung in Leben und Werk dieses Mannes, der ganz offensichtlich weltweit wahrgenommen wurde (sogar James Joyce übersetzte Stücke von ihm) und zwar eine, die mich auch einiges über das Leben lehrte. "Man möchte sagen, seine Seele öffnete sich der unberechenbaren Vielfalt der Schöpfung."
Hans Pleschinski ist ein begnadeter Erzähler. "Dorn mochte jede Jahreszeit. Der Sommer, dieser Brüllaffe, heizte allem ein, was kreuchte und fleuchte, die Käfer schossen über den Stein, die Ameisen schleppten, was sie konnten, aber ein wohliges Ächzen erfüllte die Natur. Im Herbst durfte alles und jeder ermattet sein, Gärtner Dorn rechte Laub und Nadeln, liebte die Abkühlung im Gesicht, den kräftigen Duft aus der Erde und freute sich auf den Winter, wenn das Dunkel ruhiger machte, die Schlitten vorfuhren und der Atem dampfte. Schon um fünf Uhr früh schippte er dann den Fussweg von Schneewehen frei, liess die Frostluft willig an ihm beissen, fühlte umso mehr seine Lebenswärme. Und wenn er danach die Brotkante in den Malzkaffee stippte, den ersten Schluck getrunken hatte, kam er sich wie neugeboren vor. Bohnenkaffee war den Herrschaften vorbehalten. Er träumte dann am Küchentisch, liess die Frauen schwatzen und lauschte dem Klappern der Töpfe und Pfannen."
Solche Sätze schärfen meine Wahrnehmung - und das ist einer der Gründe, weshalb ich Bücher lese. Wie auch diese, die mich die Dinge neu (der Gedanke ist mir nicht neu, ihn so wohlwollend auszudrücken hingegen schon) sehen lassen. "Das unentschiedene Schwanken scheint eine Spezialität von ihm zu sein. Nun gut, wer wankt, gewahrt vielleicht mehr als derjenige, der stur geradeaus schreitet." Oder dieser: "Nichts auf Erden kann zufriedenstellen."
Eindrücklich auch, wie Pleschinski den Einmarsch der Sowjetarmee nördlich von Görlitz schildert. Oder die Plünderungen und Enteignungen am Kriegsende. Man glaubt, sich selber mittendrin zu befinden. Überhaupt hat mich Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen des Autors, der den Krieg ja nicht selber erlebt hat, verblüfft, erstaunt und tief beeindruckt. Ganz wunderbar auch sein Witz und sein Formulierungsgabe. "Madame hingegen wirkte gelegentlich, einer selbst auferlegten Fasson halber, ein wenig indigniert. Da dies zumeist keine Konsequenzen zeitigte, blieb es, wenn sie ihre Lippen kurz spitzte, eher bedeutungslos. Oft sah sie auch nur schlecht."
"Wiesenstein" ist ein tief beeindruckendes, rundum grossartiges Werk!
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