Ideengeschichte mit Kollektivmetaphorik
Die Menschheitsgeschichte ist mit vielen Umwälzungen und ständigen, vor allem technologisch getriebenen Veränderungen verbunden. Unentwegt sind Menschen damit befasst, neue Lösungen für bestimmte Probleme zu suchen und zu finden, ihre Ideen in allen möglichen Technik- und Kulturbereichen zu realisieren und Zukünftiges zu gestalten. Doch woher kommen unsere kreativen Ideen und wie entstehen sie? Und: Was kommt zukünftig auf uns zu, wenn wir unsere Ideen in Symbiose mit Computern entwickeln? Fragen, die Stefan Klein in seinem neuen Buch Wie wir die Welt verändern stellt und für die er Antworten bietet.
Doch um es gleich vorweg zu nehmen: Kleins Antworten zeugen einerseits von einer fundierten Recherche, sind unterhaltsam zu lesen und teilweise originell; andererseits sind manche seiner Interpretationen, Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen wenig stringent, wirken eher aufgesetzt und ideologisierend. Das gilt besonders für zwei Aspekte seiner Ausführungen: für seine Metapher des "kollektiven Gehirns" und für seine Empfehlung, "die Welt wieder wie ein Kind zu sehen."
Dabei ist Kleins Ansatz gut nachvollziehbar: Er argumentiert gegen den Geniekult, der in Deutschland besonders in der Weimarer Klassik und Romantik gefeiert wurde und der bis heute im allgemeinen Sprachgebrauch weit verbreitet ist. Leonardo da Vinci, Bach, Goethe, Mozart, Einstein – da begegnet uns der Geniebegriff schnell mal wieder. Doch der Geniekult sei wirklichkeitsfremd, sagt Klein. Jüngste Erkenntnisse der Hirnforschung zeigten, "dass Kreativität kein besonderes Talent ist, mit dem einige Auserwählte beschenkt wurden und der sogenannte Durchschnittsmensch nicht." Schöpferisches Denken ergebe sich vielmehr aus den elementaren Funktionen des Verstandes, über die jeder Mensch verfüge.
Klein geht noch weiter: Kreativität entstehe nicht so sehr im Kopf des Einzelnen, sondern in der "fruchtbaren Auseinandersetzung mit anderen Personen und ihren Gedanken." Richtig, die Kommunikation ist sicherlich ein sehr bedeutsamer Faktor, aber der von Klein konstruierte Gegensatz zum "Kopf des Einzelnen" ist mehr als fragwürdig. Es ist schlicht eine Tatsache, dass viele Erfindungen und kreative Erzeugnisse von einzelnen Menschen geschaffen wurden. Ohne Ludwig van Beethoven gäbe es nicht die 5. Sinfonie. Dennoch ist es abwegig, daraus in überhöhender Weise einen Geniekult zu machen.
Problematisch ist in diesem Zusammenhang auch Kleins Redeweise von einem "kollektiven Gehirn". Denn das gibt es nicht, jedenfalls nicht so, wie es das individuelle menschliche Gehirn gibt. Das "kollektive Gehirn" ist eine Metapher für den Wissensbestand, der zum Beispiel in Büchern, Bibliotheken oder im Internet existiert, und meinetwegen für die Kommunikation von Wissen und Erfahrungen. Dabei wird jedoch vergessen, dass auch das "kollektive Gehirn" letzten Endes auf das Wissen von Einzelnen und auf individuelle Erfahrungen zurückgeht, auch wenn diese in einer Gemeinschaft kommuniziert und weitergegeben werden. In der Wissenschaftstheorie wird diese Sichtweise seit langem als "methodologischer Individualismus" bezeichnet.
Die Geschichte des menschlichen Geistes strukturiert Klein in vier große Umwälzungen oder Revolutionen, die alle eine gemeinsame Ursache haben: Die Menschen entwickelten einen neuen Umgang mit Informationen. Die erste Revolution vollzog sich vor mehr als 3,3 Millionen Jahren mit der Entwicklung von Werkzeugen und der Entstehung der Sprache. Mit dem Gebrauch der Schrift, von Zahlen und Symbolen vor etwa 100'000 Jahren entfaltete sich ein neues Verständnis der Welt und damit die zweite Revolution. Die dritte Revolution begann mit der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg um das Jahr 1450. Dadurch wurde es möglich, Informationen schnell und massenhaft zu verbreiten. Derzeit befinden wir uns in der vierten Revolution, die mit der Vernetzung von Computern Fahrt aufnahm und mit der atemberaubenden Entwicklung der "künstlichen Intelligenz" in neue Dimensionen vorstößt. Es lohnt sich, die vielen interessanten Detailinformationen zu dieser faszinierenden Geschichte aufzunehmen und sich in Kleins Buch zu vertiefen.
Werden von Computern gesteuerte Maschinen mal die Menschheit und damit die Welt beherrschen? Solche Maschinen seien, so Klein, "Lichtjahre" davon entfernt, "die Welt aus den Angeln zu heben." Der Grund ist: Das menschliche Gehirn verfolge einen ganz anderen Zweck als Computer. Klein: "Das ist der entscheidende Unterschied zwischen dem menschlichen Geist und einer Maschine: Computer sollen Probleme lösen, Gehirne dienen dem Überleben." Was uns leite, seien die Prinzipien des Lebens selbst. Computern seien bestimmte Ziele, uns dagegen sei Freiheit einprogrammiert.
Aber wie sieht die Zukunft der Menschheit angesichts der großen ökologischen und globalen Gefährdungen aus? Die Herausforderungen an die menschliche Kreativität sind enorm. Es werde nicht reichen, auf das Bewährte zurückzugreifen, meint Klein. Er fordert dazu auf, wieder wie ein Kind auf die Welt zu blicken. Denn: "Schöpferische Menschen sehen die Welt mit den Augen eines Kindes, das nichts für gegeben nimmt und bereit ist, mit allem zu experimentieren."
So sympathisch der Verweis auf die kindliche Wahrnehmung mit ihrem Staunen und ihren verblüffenden, unbequemen Fragen auch sein mag – es bleibt eine gehörige Portion Skepsis zurück bei dieser religiös anmutenden Wendung. Kleins Forderung erinnert an Matthäus 18,3: "Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen." Mir scheint: Die ökologischen Zukunftsprobleme müssen vor allem technologisch gelöst werden, um eine menschenwürdige, lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten zu gestalten. Wir brauchen dafür viele kluge, kreative Köpfe, aber auch viel Realitätssinn.
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