Der erste Schritt passiert im Inneren
Hans Durrer ist Autor, Suchtberater und Dolmetscher. Seine neuestes Buch "Wie geht das eigentlich, das Leben?" gibt Anregungen für Menschen, die mit dem herrschenden Konsumwahnsinn nicht klarkommen, sich in Süchte und andere seelische Krankheiten retten, die aber wieder zu einer lebensbejahenden Sicht finden möchten, ohne sich gleich in fremde Therapeuten-Hände zu begeben, denn der erste Schritt passiert im Inneren und kommt nicht von aussen. Ein Interview mit dem Autor:
Süchtig sind wir ja alle, ob es nun die Sucht nach Anerkennung, Geld, Konsum, Sex, Alkohol oder sonst einem Stoff ist, ist eigentlich nebensächlich. Wie aber merke ich, dass mir eine Sucht - abgesehen von physischen Folgen - schadet und ich etwas dagegen tun sollte?
Süchtige wissen meist, dass ihr süchtiges Verhalten ihnen schadet, doch sie wollen es nicht wirklich wahrhaben und sind Meister darin, sich selber zu bescheissen. Erst wenn der Leidensdruck so gross ist, dass man nicht mehr damit leben kann/will, wird man in der Regel etwas gegen die Sucht tun. Wie immer: es mag Ausnahmen geben.
Hilfsangebote gibt es zahlreiche. Die klassische Hilfe von aussen ist aber eher selten erfolgreich. Die entscheidenden Weichen muss jede/r in sich selber stellen. Wie aber wird man vom selbst-destruktiven zum lebensbejahenden Menschen? Und kann ein Buch hier wirklich entscheidend helfen?
Die meisten Süchtigen, die aus der Sucht rauswollen, lehnen Hilfe ab, wollen es alleine schaffen, doch das funktioniert nur selten. Die Anonymen Alkoholiker bringen es auf den Punkt: "Nur Du allein kannst es schaffen. Aber Du schaffst es nicht allein."
Vom selbst-destruktiven zum lebensbejahenden Menschen wird man dadurch, dass man akzeptiert, wirklich akzeptiert, dass das Leben kein Ponyhof, sondern schwierig, anstrengend und oft sehr mühsam ist. Auf dieser Grundlage lässt sich das Leben als tägliche Herausforderung verstehen beziehungsweise als Übungsprogramm leben und nicht als etwas, mit dem man hadert, weil es so recht eigentlich ganz anders sein sollte.
Mir selber haben Bücher viel geholfen, ich verdanke ihnen viele meiner Lebenseinsichten . Und ich denke, das wird anderen auch so gehen.
Unsere kapitalistische Gesellschaft, die auf Konsum und Selbstdarstellung ausgerichtet ist, produziert Süchtige am Laufband, sie lebt quasi von ihnen. Ist der Nicht-Süchtige dadurch nicht automatisch ein Aussenseiter und ist es nicht deshalb auch so schwierig, Süchte zu überwinden?
Genau so isses! Wie ein Freund von mir, ein erfolgreicher Manager, einmal sagte: Als ich noch gesoffen habe, ist mir mein Job wesentlich leichter gefallen
Sie sind in diversen Weltgegenden unterwegs gewesen. Gibt es nach Ihrer Erfahrung auch kulturelle Faktoren, die Süchte fördern respektive verhindern?
Ich habe einiges darüber gelesen, weiss also zum Beispiel, dass es Kulturen gibt, in denen mehr gesoffen wird als in anderen. Die Mutmassungen über das Warum fand ich meist anregend, aber nicht mehr. Persönlich nehme ich Sucht als kulturübergreifendes Phänomen wahr.
Was hingegen kulturell ganz unterschiedlich gehandhabt wird, ist der Umgang mit der Sucht. In den westlichen Kulturen, die sich auf die Aufklärung berufen, geht man offener und konfrontativer damit um als in Kulturen, die vor allem die Harmonie betonen. Doch ein Tabu ist Sucht nach wie vor, in allen Kulturen. Sich bei der Arbeit als Süchtiger zu 'outen' ist auch in unseren 'aufgeklärten' Zeiten meist keine gute Idee.
Wer etwas ändern will, hat ja schon mal einen entscheidenden Schritt getan, indem die Bereitschaft zur Änderung hergestellt ist. Oft sind es dann aber die kleinen alltäglichen Negativ-Erlebnisse, die einen in alte Muster zurückfallen lassen. Gibt es Tricks oder Techniken, die man in solchen Momenten anwenden kann?
Ich bin kein Fan von Tricks und Techniken, habe mich solcher selber nie bedient. Was mir hilft, nicht in alte Muster zu verfallen, ist Wachsamkeit. Die ist anstrengend, notwendig und bereichernd. Wichtig scheint mir, die Bereitschaft zur Änderung zu pflegen (was letztlich nichts anderes ist, als sich aufs Leben einzulassen, sich damit zu konfrontieren) , immer wieder auf sie zurückzukommen, sie ständig zu erneuern. Und durch das Einüben neuer Verhaltensweisen neue Nervenbahnen im Gehirn zu stärken.
"Wie geht das eigentlich, das Leben?" ist ja eine recht nebulöse Frage, denn leben tut man ja von selbst, ob man dies nun als positiv oder negativ wahrnimmt. Zudem ist ja auch nicht zwingend, dass man dank Selbst- und Welterkundung zu einem grundsätzlich positiv denkenden Menschen wird. Ist es wirklich in jedem Fall erstrebenswert, "Meister seiner selbst zu werden" oder kann manchmal auch eine Portion Verdrängung gesünder sein?
Die Vorstellungen darüber, was ein gutes Leben ist, sind natürlich verschieden und nicht jeder möchte möglichst bewusst und selbstverantwortlich sein Dasein verbringen, wie es etwa mir für mich selber vorschwebt.
Verdrängung ist notwendig. Wie Nietzsche schrieb in "Jenseits von Gut und Böse: "Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein." Gleichzeitig gilt jedoch, was Richard Feynman, Nobelpreisträger für Physik, einmal in Bezug auf die Wissenschaften gesagt hat, jedoch meines Erachtens ganz allgemein gilt: "The first principle is not to fool yourself. And you are the easiest person to fool."
Ich bin kein Fan von "Hauptsache positiv", halte übertrieben hohe Erwartungen an sich selber für ungesund. Mir geht es um die Balance zwischen Herz, Körper und Geist, was auch den Mut voraussetzt, nicht perfekt sein zu müssen.
Hans Durrer, besten Dank für das Gespräch.
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