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Noam Chomsky: Was für Lebewesen sind wir?

Kreative Erziehung als Schlüssel zur Zukunft?

Jede Sprache stelle eine unbegrenztes Spektrum hierarchisch strukturierter Ausdrücke zur Verfügung, die an zwei Schnittstellen interpretiert werden könnten: einer sensomotorischen für die Externalisierung und einer konzeptuell-intentionalen für geistige Prozesse. Sprache sei wiederum nichts anderes als Laut mit Bedeutung, meinte Aristoteles, aber dieses klassische Diktum führe leider in die Irre. Galileo Galilei erkannte in den zwanzig Buchstaben auf dem Papier eine höhere Leistung als "alle staunenswerten Erfindungen selbst eines Michelangelo, Raphael oder Tizians". Von Humboldt stammt wiederum der Aphorismus, dass Sprache durch die unendliche Verwendung endlicher Mittel gekennzeichnet sei. Bei der Sprache handle es sich nicht um Laute mit Bedeutung, sondern um Bedeutung mit Lauten korrigiert Chomsky Aristoteles, denn es gehe ja um Externalisierung, auch wenn der weit größte Teil des Gebrauchs der Sprache nie externalisiert werde.

Sprache: Werkzeug des Denkens?

Im zweiten Kapitel "Was können wir verstehen?" geht es zunächst um das Gehirn in den Eingeweiden, bevor Chomsky über Locke und Russell zur Einsicht gelangt, dass die Zuschreibung von Identität eine Konstruktion der Vorstellungskraft und die Faktoren, die an der Konstruktion dieser Fiktionen beteiligt sind werden zu einem Gegenstand der Kognitionswissenschaft". "Was ist das Gemeinwohl" heißt es dann im dritten Kapitel, in dem Chomsky formuliert, dass den Verstand zur Anwendung zu bringen und so die Ausbildung des Menschen in höchster Mannigfaltigkeit zu fördern, sollte dies zum allgemeinen Ziel erklärt werden, das Gemeinwohl aller erhöhen würde. Selbst Adam Smith sah in der Anteilnahme an der Glückseligkeit anderer ein Vergnügen. Rudolf Rocker, ein Anarchosyndikalist, den Chomsky gerne zitiert, nannte es eine Tendenz in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit, dass sie zur freien, unbehinderten Entfaltung aller individuellen und gesellschaftlichen Lebenskräfte hinstrebe. Chomsky sieht in den Anarchisten die Erben der klassischen liberalen Ideen, die aus der Aufklärung hervorgingen und keine bombenwerfenden Terroristen. "Ni dieu, ni maitre" (kein Gott, kein Herr) eine Parole die Daniel Guerin prägte - und bei Chomsky oder seinem deutschen Übersetzer falsch herum übersetzt wird - wollte die Bevormundung beenden.

Chomsky als Sprachwissenschaftler und Politiker

In politischer Hinsicht geht Noam Chomsky u. a. auch auf die Stellung der Frau in den USA ein, die einen Status hatte, der wenig mehr als dem eines Sklaven entsprach, da ihr bis ins 20. Jahrhundert keine Rechtspersönlichkeit zugestanden wurde. Interessant ist auch seine Aufrechnung der Opfer der Bürgerkriege in Lateinamerika gegen die Opfer im sowjetischen Block als Ganzes: Zwischen 1960 und 1990 sei die Sowjetunion weniger repressiv gewesen und habe "gemessen an der Anzahl menschlicher Opfer weniger" gekostet als viele lateinamerikanische Länder für sich genommen. "Eine beispiellose menschliche Katastrophe", besonders unter Ronald Reagan, wie Chomsky ergänzt. Auch mit der heutigen USA geht Chomsky hart ins Gericht, denn er nennt sie eine Plutokratie, in der 70 Prozent der Bevölkerung keinen Einfluss auf die Politik hätten.

"Was sollte aber Erziehung eigentlich leisten?", ist eine weitere Frage, die er beantwortet: Die Ermutigung von Kreativität, Forschung, Unabhängigkeit und kooperativer Arbeit, also ziemlich das Gegenteil von dem, was wir heute vorfinden, wie er zynisch ergänzt. Der Geist der Zeit sei auch heute noch: sich bereichern und nur noch an sich selbst denken. Das führe unweigerlich zum Untergang der westlichen Zivilisation, sollten wir uns nicht rechtzeitig noch der Prinzipien Rockers besinnen.


von Juergen Weber - 24. Dezember 2016
Was für Lebewesen sind wir?
Noam Chomsky
Michael Schiffmann (Übersetzung)
Was für Lebewesen sind wir?

Suhrkamp 2016
Originalsprache: Englisch
248 Seiten, gebunden
EAN 978-3518586945