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»Was ER euch sagt, das tut!«

Neueste deutsche Kirchenpolitik? – Eine Analyse der katholischen Kirche heute

Seit einigen Jahren findet eine medial beachtete Diskursveranstaltung in der katholischen Kirche in Deutschland statt. Der Skandal und die Vertuschung des sexuellen Missbrauchs in der Institution veranlasste die Deutsche Bischofskonferenz und das sogenannte "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" zu einem mehrjährigen Reformdialog. In diesem stehen etwa die von Michel Foucault inspirierten "Humanwissenschaften" im Mittelpunkt. Eine postmoderne Wissenschaftsgläubigkeit scheint den Glauben an Gott zu ersetzen. Alimentiert von Kirchensteuermitteln diskutieren Bischöfe, Professoren und Kirchenfunktionäre sowie andere Laien viele Jahre hindurch über die Strukturen, inhaltliche Schwerpunkte, eine Revision der Moral- und Sexuallehre sowie über die Aufgabe der Kirche heute im Allgemeinen. Debattiert wird unter anderem über die "Soziologie der Diversität". Nicht nur Agnostiker und Andersgläubige beobachten dieses Spektakel mit Verwunderung. Manche fragen sich: Ist aus der Kirche endgültig eine säkulare Partei geworden? Religions- und Politikwissenschaftler werden sich mit dieser emotional aufgeladenen Diskursveranstaltung noch auseinandersetzen. Was einfach gläubige Katholiken, ob Kleriker oder Laien, darüber denken, die es auch im deutschsprachigen Raum noch geben soll, weiß kein Mensch. Oder doch? Ein jüngst publizierter Band bietet hilfreiche Einblicke und neue Sichtweisen.

Gläubige Katholiken begreifen die Kirche als Stiftung Jesu Christi. Der Titel des Bandes erinnert daran. Die Ausrichtung auf das Evangelium Jesu Christi ist seit 2000 Jahren maßgeblich. Die Bibel ist gewissermaßen die Gründungsurkunde der Kirche. Vor etwa 60 Jahren fand in Rom das Zweite Vatikanische Konzil statt. Einberufen wurde es damals von Papst Johannes XXIII., der nicht ein neues Evangelium, sondern neue Formen der Verkündigung wünschte. Wie kann die Frohe Botschaft in der Welt von heute glaubwürdig bezeugt werden? Dazu gehört selbstverständlich auch das Gespräch mit den Wissenschaften der Zeit. Geistes- und Sozialwissenschaftler würden aber etwa die "Humanwissenschaften" kritisch und reflektiert diskutieren, nicht aber als neue Wahrheit ergeben aufnehmen und institutionell verankern. In dem vorliegenden Band erörtern die Autoren – und dazu gehören mehrheitlich bekannte Theologen genauso wie etliche Gläubige – die Themen des "Synodalen Weges" und setzen sich begründet davon ab. Auf dem "Synodalen Weg" wird das Konzil beschworen und zugleich mehrheitlich ignoriert.

Der Münchner Pastoraltheologe Andreas Wollbold etwa erinnert an die Ernsthaftigkeit der Gottesfrage: "Die Glaubenskrise ist eine Gotteskrise. … Für die meisten Menschen ist Gott kein persönliches Du, vor dem ich steht, vor dem ich mich verantworte, auf den ich vertraue, sondern bestenfalls eine höhere Kraft, die mich wie ein warmer Wind umfängt und mir das Leben etwas leichter macht." Wollbold kritisiert, dass gegenwärtig allein institutionelle Themen diskutiert und traditionelle Reformwünsche vorgebracht werden. Diese Beobachtung ist nachvollziehbar. Auch heute gibt es noch ernsthafte Gottsucher und vielleicht verborgen gläubige Personen, man denke nur an den bekannten Schriftsteller Martin Walser. Aus religionswissenschaftlicher Sicht verliert sich die aktuelle innerkatholische Reformdebatte eher im Unbestimmten. Angehörige einer Institution mit schwindenden Mitgliederzahlen debattieren erregt über das Profil einer Institution. Politische Parteien tun das nach Wahlniederlagen regelmäßig, überall auf der Welt. Wollbold sagt: "Die Kirche hat ihre Sendung verloren." Der Münchner Pastoraltheologe weiß, wovon er spricht, denn er lehrt Theologie – und ist ständig im Austausch mit jungen Menschen, die ihren Weg im Leben, aber auch möglicherweise auch ihren Weg mit Gott und der Kirche suchen. 

Dass viele Menschen, nicht nur in Deutschland, der Kirche den Rücken kehren, liegt nach Auffassung von Nina Heereman an einer "Verkündigung nach dem Zeitgeist", zumindest in der Kirchenprovinz Deutschland. Sie legt dar: "Dort, wo die Menschen das Evangelium sozusagen buchstäblich zu ihrer Lebensregel machen, wächst die Kirche und zieht Alt und Jung, Frauen und Männer gleichermaßen an." Übersetzt heißt das: Die Kirche hat eine Botschaft, die sie nicht oder nicht in angemessener Weise verkündet. Sie braucht, wie der Regensburger Priester Christoph Binninger sagt, nicht Funktionäre, sondern Gesandte Christi, also Seelsorger, nicht Marketingspezialisten. Aus der Perspektive der Kirchengeschichte, aber auch seitens der Soziologie und Politikwissenschaft ist noch nicht hinreichend erforscht, warum in den meisten Diözesen in Deutschland die Verwaltungen ständig ausgebaut und immer mehr Referate eingerichtet wurden. Wer sich die Organigramme der Kirchenverwaltungen ansieht, entdeckt einen bestens ausgestatteten Apparat und eine Vielfalt an Mitarbeitern, die sogar – wie etwa im Bistum Hildesheim – aufwändig und kostenintensiv einen Flyer für geschlechtersensible Sprache erstellen. Mit der Kirchensteuer lässt sich offenbar vieles finanzieren. Die Institution Kirche lebt, unbemerkt oder nicht, von den ökonomischen Bedingungen, auf denen ihre Verwaltung beruht. Sonst wäre vieles nicht finanzierbar. 

Die Kommunikationsberaterin Franziska Harter, die in Frankreich lebt, berichtet, dass Kirchensteuer dort ein "Fremdwort" sei. Unter Katholiken dort sei aber ein "neues Selbstbewusstsein" entstanden: "Die Zeiten, in denen sich die französischen Katholiken hinter die Grenzen eines Kulturchristentums zurückgezogen haben, sind einem neuen Frühling der Evangelisierung gewichen. … Wer dafür brennt, seine Mitmenschen für Jesus zu begeistern, wartet damit weder auf finanzielle Zuschüsse, noch auf Weihe." Hierzulande indessen tritt das "Zentralkomitee der deutschen Katholiken" als Vertretung der Laien auf, ohne dass es von den Katholiken in Deutschland demokratisch legitimiert wäre. Gefordert wird auf dem "Synodalen Weg" jedoch mehr Demokratie in der Kirche, nicht aber freie Wahlen für diese prominent besetzte Laienorganisation. Dass Außenstehende das alles nicht verstehen und darüber eher schmunzeln, verwundert nicht. Der erfahrene Erzbischof Erwin Josef Ender spricht von gravierenden Entfremdungsprozessen. Was er ausführt, ist auch für Agnostiker plausibel: "Vorwiegend strukturelle Veränderungen im Leben der Kirche werden kaum jemand motivieren und dazu bewegen können, seinen Glauben und seine Liebe zu Gott in der Kirche wiederzuentdecken und neu zu leben. Der Glaube kommt vom Hören, nicht vom Debattieren, Kritisieren und Programme schreiben." Das "gelebte Glaubenszeugnis" überzeuge. Wer wollte dem ernsthaft widersprechen? 

Dass etwa in Gottesdiensten heute von Kirchenmitarbeitern vielfach über Kirchenpolitik gepredigt und zugleich die Kirche selbst kritisiert, ja verhöhnt wird, ist ein Armutszeugnis, gewissermaßen ein Anti-Erneuerungsprogramm. Dieser reichhaltige Band bietet eine fundierte, kritische und lehrreiche Analyse der katholischen Kirche in Deutschland heute und verdient darum aufmerksame Leser, insbesondere auch aus den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Wer verstehen möchte, was in der Institution Kirche derzeit vor sich geht, dem sei dieses Buch empfohlen.


von Thorsten Paprotny - 21. November 2021
»Was ER euch sagt, das tut!«
Christoph Binninger (Hrsg.)
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hrsg.)
Karl-Heinz Menke (Hrsg.)
Christoph Ohly (Hrsg.)
»Was ER euch sagt, das tut!«

Kritische Beleuchtung des Synodalen Weges
Friedrich Pustet 2021
262 Seiten, broschiert
EAN 978-3791732886