Bildung als humanes Projekt
Folgt man den Herausgebern, so werden wir derzeit Zeugen einer Neuausrichtung des Bildungsverständnisses. Symptomatisch wird dies anhand von Multiple-Choice-Tests: "Es wird vorgeschlagen, 'Bildung' [...] zu reproduzieren bzw. durch empirisch messbare Lernleistungen zu definieren" (9). Eine gemessene Lernleistung mit Bildung gleichzusetzen, deutet bereits auf eine "technisch-funktionalistische Reduktion des [...] Bildungsbegriffes" (13) hin. Was Bildung jenseits dessen ist oder besser: sein sollte, etwa ein humanes Projekt, bei dem die Selbstkultivierung und eine daraus resultierende sozial verantwortende Handlungsfähigkeit womöglich die maßgebliche Rolle spielt, erweist sich als eine Frage, auf die das vorliegende Buch ganz sicher keine Antwort geben will. "Was den Menschen eigentlich zum Menschen macht..." bietet vielmehr dem interessierten Leser die Möglichkeit, anhand ausgewählter (klassischer) Texte zur Philosophie der Bildung eine solche Antwort für sich selbst zu entwickeln. Es werden insgesamt 12 Autoren in chronologischer Reihenfolge vorgestellt, in deren Leben und Werk kurz, aber keinesfalls verkürzt die beiden Herausgeber einführen. Im Anschluss kommen die Autoren selbst zu Wort. Auf diese Weise wird dem Leser sowohl die historische, als auch die bildungsgeschichtliche Einordnung erleichtert, was das Buch insbesondere für Studierende interessant machen dürfte. Die teils etwas sperrige Sprache der Herausgeber erfordert wohl gerade von Studierenden in der Anfangsphase einen gewissen Durchhaltewillen. Lässt man sich auf den Schreibstil ein, wird man auf eine überaus spannende Reise durch die Geschichte der Philosophie der Bildung geführt, deren Stationen klug ausgewählt wurden.
Die Reise beginnt bei Platon. Anhand seines Höhlengleichnisses wird deutlich, dass über die Bildung ein Zugang zu einer Dimension des Seins möglich wird, die in einer sich ständig verändernden Welt Orientierung bietet. Der Einblick in die Ideenwelt ist für Platon kein ausschließlich theoretisches Anliegen, sondern stellt die Voraussetzung dar, um "im Bereich der menschlichen Pragmata vernünftig zu handeln" (16). Die Fähigkeit des vernünftigen Handelns könnte sich dabei gerade als das erforderliche Moment erweisen, das der gottähnlichen Schöpferkraft des Menschen in der Tradition des Renaissance-Humanismus fehlt. Wenn nach den Worten des Giovanni Pico della Mirandola der ohne Eigenschaften erschaffene Mensch aufgefordert ist, "seine Natur nach eigenem Willen selber [zu] bestimmen" (47), ist bei aller Aufforderung nach (Selbst-)Bildung der Schöpfer-Mensch orientierungslos in die absolute Freiheit gestellt. Hier erweist sich das Vorhaben eines Jan Amos Comenius als überaus hilfreich. Alle alles zu lehren (omnes omnia omnino docere) meint Bildung in einem universalen Verständnis und zielt weit über die Bildung des Einzelnen auf eine Verbesserung menschlicher Verhältnisse. Dies heißt - so die Herausgeber - gerade nicht Wissen zu beliebigen Zwecken zu lehren, sondern verlangt stets die Fokussierung auf den qualitativen Aspekt menschlicher Lebensumstände.
Für Wilhelm von Humboldt geht es bei der Bildung um den wahren Zweck des Menschen. Dieser Zweck liegt nicht allein im Einzelnen, sondern immer auch in einer Gesellschaft. Insofern der Einzelne an der Entfaltung seiner Individualität und dem Versuch einer Identitätsgewinnung arbeitet, ist er immer auch mit Brüchen, mit Widerstrebenden und Unintegrierbaren konfrontiert. Diese inneren und äußeren Einflüsse im Zuge der "qualifizierte[n] Arbeit an [sich] selbst" (111) zu begreifen, einzuschätzen und zu bewerten, unterstreicht Bildung als "Bildung des verantwortlichen Subjekts" (113).
Die Bildungsanstalten, insbesondere die Erziehungspraxis an deutschen Gymnasien kritisierend, plädiert Friedrich Nietzsche für eine problemorientierte Didaktik. Damit spricht er sich explizit gegen einen Bildungszwang aus, vielmehr fordert er, "in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen" (139), um die Begierde nach Wissen zu nähren und eben dieses Wissen zu lehren. Bildung hängt für Nietzsche untrennbar mit Ästhetik zusammen. Ihm zufolge kann höhere Bildung - wie alles Schöne - kein Gemeingut sein. Nietzsches Bildungskonzept muss daher, wie die Herausgeber völlig zurecht bemerken, als ein "aristokratisches" (140) und dezidiert elitäres konstatiert werden. Die an den Menschen herangetragene Bildung braucht etwas im Menschen, was mit dem Herangetragenen korrespondiert. Eben hier wird eine Verbindung zu Hans-Georg Gadamer offenbar, der Bildung als "Heimkehr zu sich selbst" (170) versteht. Für das Andere empfänglich zu sein, um sich über das Andere selbst zu erfahren, ist freilich nichts Machbares. Vielmehr geht Bildung vom Sein aus und erweist sich als eine Bewegung, die zum Sein zurückgeht: "Die Frage der Bildung ist somit nichts, was sich auf der Ebene des Verfahrens oder Verhaltens klären ließe, sondern hat etwas mit dem 'gewordenen Sein' zu tun." (170). Das Moment der Selbsterfahrung spielt auch in Peter Bieris Bildungskonzeption eine wesentliche Rolle, wenngleich Bieri die "brüchige Vielfalt" (204) und die damit einhergehende Unsicherheit im Prozess der Selbstwerdung hervorhebt. Der sich selbst Bestimmende ist niemals ein fertig-gebildeter Mensch, er hat nur dann die Möglichkeit des Werdens, wenn er von seinem Selbstbild ablässt. Wissen stellt für Bieri den Weg zur Selbstwerdung dar. Wo Wissen "in eine emotionale, ästhetische und moralische Dimension" (205) führt, wird der Mensch in seinem Erleben und Empfinden differenzierter. Damit geht eine zutiefst soziale Komponente einher, in deren Folge Einführungsvermögen zum Gradmesser für Bildung wird. Auf eine Formel gebracht: "Je gebildeter jemand ist, desto besser kann er sich ausmalen, wie es wäre, in der Lage anderer zu sein, und dadurch vermag er, ihr Leid zu erkennen." (205). Für Bieri ist Bildung in dieser Form "tatsächlich ein Bollwerk gegen Grausamkeit" (205).
Zusammenfassend lässt sich folgendes festhalten: Lessing und Steenblock bieten mit "Was den Menschen zu Menschen macht..." insbesondere Studierenden die Gelegenheit, einen umfassenden und vielseitigen Einblick in das Feld der Bildungsphilosophie (und damit bis zu einem gewissen Grad auch in das der Bildungstheorie) zu erlangen. Die Auswahl der Originaltexte und die einführenden Worte laden zu einem kritischen Umgang mit denjenigen Stimmen ein, die Bildung als Technologie zur Erreichung eines Zwecks jenseits des Menschen und der Menschlichkeit festzustellen meinen. Wohl aber weist die Lektüre darauf hin, dass Bildung immer (auch) in der Gefahr steht, sich jenseits des Menschen an eine Idee der Menschlichkeit zu verlieren. Scharf formuliert: Bildung kann ein humanes Projekt sein, aber ebenso zum menschenfeindlichen Dogmatismus verleiten, wenn sie nur als Zweck und nicht auch als Mittel erscheint.
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