Ich habe, also bin ich
Der Anlageberater Karl von Kahn ist in Martin Walsers Roman "Angstblüte" die Galionsfigur, die den Hörer durch die wechselhaften Tiefen der Geschichte führt. Literarische Klippen werden dabei elegant umschifft, in der Saragossasee der Wörter bleibt er nicht hängen, auf Flauten folgen Lüftchen, stürmische Wogen werden geglättet: Martin Walser und damit Karl von Kahn bleibt immer souverän.
Bei seinem stets bugwärts gerichteten Blick bemerkt Karl es manchmal zu spät, was am Heck gegen ihn ausgeheckt wird. Er weiß, dass er nicht zum Kapitän taugt und es war auch nie sein Ziel. Diesen Platz überlässt er lieber seinem besten und einzigen Freund Lambert. Ausgerechnet Lambert läutet seine Demontage ein und betrügt ihn um mehrere Millionen Euro. Aus der Galions- wird eine Witzfigur. Sein Lebenskonstrukt beginnt zusammenzubrechen. Er gerät in eine geringfügig verspätete Midlifecrisis - feierte er doch kürzlich seinen 70ten Geburtstag.
Gnadenlos karikiert Martin Walser die Vertriebsstrategien und Geldanlagekonzepte der Finanzbranche. Karl von Kahn und seine Klienten gehören nicht zur marketingkonformen "Generation 50+", sondern zur "Generation 70 - 80 - 90 +" mit einem Faible für langfristige, renditestarke Anlagekonzepte - und Karl vermittelt diese. Als ehemaliger Bankangestellter verfügt er über das hierzu nötige Know-how. Seine Zugehörigkeit zur gleichen Altersklasse verleiht ihm Glaubwürdigkeit und sein feines Gespür für Gewinnchancen lässt ihn nie im Stich, wovon alle Beteiligten profitieren. Mit Lamberts Verrat bricht sein ganzes Lebenskonzept zusammen. Er wird sich seiner Vergänglichkeit bewusst und fragt sich: "Soll das alles sein?" Obwohl glücklich mit der Ehe-Therapeutin Helen verheiratet, erliegt er den Reizen der ehrgeizigen Nachwuchsschauspielerin Joni Jetter. Hofft er zunächst, dass diese seine pennälerhaft übersteigerte Liebe erwidert, wird ihm nach der ersten gemeinsamen Liebesnacht bewusst, dass Loni sich ihm nur teuer verkauft hat: zur Finanzierung ihres nächsten Films fehlen noch 2 Millionen Euro, und die hat Karl ihr zugesagt.
Die Liebesszene im Hotel gehört zu den herausragendsten Szenen des Hörbuches. Von explizitem Vokabular ist sie so weit entfernt wie der Nordpol vom Südpol. Karl von Kahns Traurigkeit bündelt sich hier wie nirgends sonst im Hörbuch und wird in ihrer emotionalen Dichte nicht einmal von dem Abschiedsbrief seines Bruders erreicht. Nichts als Leere, Mechanik, Trauer und Versagensängste sprechen aus dieser Episode. Dabei ist er sich unterschwellig durchaus bewusst, dass Joni an ihm nicht Liebe vollzieht, sondern Überzeugungsarbeit.
Angst ist eines der beherrschenden Themen in "Angstblüte". Die Beteiligten verstecken sie hinter der Illusion, Zinseszinseffekte verlängerten das Leben. Karl von Kahns Angst, etwas verpasst zu haben, gipfelt in seinen existenzzerstörenden sexuellen Ausschweifungen. Sein Bruder Erewein sieht nur einen Ausweg aus seiner Angst: in dem er selber den Zeitpunkt des Ablebens bestimmt und Selbstmord begeht. Als Gegensatz präsentiert Martin Walser scharfsinnig und böse die Liebe - und hier in erster Linie zu Geld, Zinseszins und Rendite. Das archaische Lebensmotto "Haus bauen - Baum pflanzen - Sohn zeugen" ist dem modernen Geldscheffeln gewichen: Definition des Lebensglücks über das Bankkonto.
Der modernste und mutigste Autor der deutschen Altherrenriege
Mit "Angstblüte" beweist Martin Walser erneut, dass seine Fabulierkunst ungebrochen, seine ironische Sicht auf gesellschaftliche Entwicklungen ungetrübt und seine anrührenden Momente weder seine Figuren der Lächerlichkeit preisgeben noch kitschig oder stereotyp wirken lassen. Walsers moderne Ausdrucksweise und sein Mut, auch vor, in der deutschen Hochbelletristik verpönten, expliziten Beschreibungen nicht zurückzuschrecken, verstärken und festigen seinen Ruf eines Autors von internationalem Rang. Dass diese radikalen Ausdrucksformen kein Deutsches Phänomen, sondern vielmehr zeitgemäß und angebracht sind, zeigen auch andere Autoren von internationaler Bedeutung. Erinnert sei hier nur an John Updikes "Landleben" oder Philip Roths "Das sterbende Tier".
Häufig ist der Tonfall des Geschriebenen wichtiger, als das Gesagte. Herausragende Sprecher von Hörbüchern erkennen diesen intuitiv und lassen den Rhythmus, die Satzmelodie in ihren Vortrag einfließen und erschaffen ein Gesamtkunstwerk, das weit über die Eigenlektüre des Buches hinausgeht. Martin Walsers Lesung exponiert die Intensität seines Romans um ein Vielfaches. Die vom Leser angestellten Vermutungen über die Bedeutung einzelner Episoden, Sätze oder Wörter fegt Walser einfach mit einer simplen Änderung der Modulation, einer Beschleunigung bzw. Verlangsamung der Sprechgeschwindigkeit sowie durch Ergänzen respektive Weglassen vermeintlich als sicher angenommener Untertöne weg. Geriet der Roman stellenweise etwas unübersichtlich durch die Kombination von Traumsequenzen, Rückblenden und verschwenderischer Detailvielfalt, ist Martin Walsers Stimme der Ariadnefaden, der den Hörer sicher durch den Roman navigiert. Doch gerade dann, wenn sich der Hörer auf sicherem Eis wähnt, fordert er den Hörer heraus, indem sich eine minimale Unsicherheit oder, noch gemeiner, Sachlichkeit in seine Lesung einschleicht.
"Was ist die Bedeutung von dies" fragt man sich, frei nach Peter Sellers. Die Antworten auf die elementaren Fragen, die Walser in seinem Roman aufwirft, fallen dem Hörer nicht einfach in den Schoss. Man hält die Antwort für einfach, die Einordnung in den Kontext für vergnüglich. Ein Walser-Roman war und ist halt immer auch eine intellektuelle Herausforderung. Wer nicht bereit ist, sie anzunehmen, beraubt sich selber eines der angenehmsten Hörvergnügen.
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