Wolf Haas: Wackelkontakt

Mehr als die Summe seiner Teile

Eine Lithografie des niederländischen Künstlers M. C. Escher, Drawing Hands, dürfte den österreichischen Schriftsteller Wolf Haas zu seinem neuen Roman inspiriert haben. Die gezeichneten Hände, die sich selbst zeichnen, bieten einen weiten Interpretationsspielraum über einen Perspektivenwechsel, wie es in der Literatur wohl nur ein Autor wie Wolf Haas schafft. Ein geniales Stück Literatur, das einen "puzzled" zurücklässt.

Einserschmäh: Wackelkontakt, ein elektrisierendes Puzzle

Der Trauerredner und verkrachte Schriftsteller Franz Escher wartet in seiner Wohnung auf den endlich bestellten Elektriker Marko Steiner. Schon lange will er drei Steckdosen in der Küche montiert haben, da er sonst immer die Geräte umstecken muss, was ihn unendlich nervt. Aber der Elektriker der Firma Elektro Janko macht einen Fehler und fällt vor dem Hauptsicherungskasten tot um. Wie ein Puzzleteil in das andere passt, so erzählt Haas die Geschichte der beiden Protagonisten, die durch einen Wink oder besser Blitzschlag des Schicksals verbunden sind. Mit gewohnt spielerischer Sprache und witzigen Einfällen zeigt der Autor Wolf Haas sein Können. Denn nur jemandem, der schreiben kann, fallen solche Sprachspiele ein. Was Franz nämlich nicht weiß, ist, dass Marko der Mafia-Kronzeuge Elio Russo ist, der eine andere Identität angenommen hat, um den Tentakeln der kalabrischen 'Ndrangheta zu entkommen. Elios Erlernen der deutschen Sprache gestaltet Wolf Haas so unterhaltsam, dass er für eine Situation gleich nach mehreren Synonymen sucht: "Geklaut. Gestohlen. Entwendet. Ich musste nur kurz verschwinden, da war das Rad verschwunden." Oder er verwendet Floskeln als Antwort, die mitunter nicht ganz so gut passen. "Wenn Marko Steiner wütend wurde, zählte er nicht bis hundert, er memorierte Vokabeln". Da Marko in Wien lebt, hat er auch ein Lied eines Österreichers als Klingelton: "Ruaf mi net o", der in Dauerschleife die ersten drei Sekunden wiederholt. Ruft da womöglich die 'Ndrangheta an?

Trick 17: Wolf Haas geht aufs Ganze

Mitnichten. Was harmlos beginnt, entwickelt sich zu einer spannenden Entführungsgeschichte, bei der die Tochter von Elio, Ala, für immerhin drei Millionen Euro zurückgekauft werden soll. Aber weder die Witwe, Gabriele, Marko noch Franz haben so viel Geld. Doch da hat der Escher plötzlich eine rettende Idee. Köstliches Amüsement erwartet die Leser dieses literarischen Vexierspiels, in dessen Zentrum auch eine alte Leidenschaft steht: das Puzzle. Was heutigen Generationen als Beschäftigung völlig unerklärlich erscheinen mag, war damals, als Franz Escher noch jung war, ein verbreitetes Hobby gestresster Familienväter. Diese Hommage an eine absolute Vintage-Spielerei und die vielen kunst-geschichtlichen, literarischen und sprachlichen Anspielungen machen auch den neuen Wolf Haas wieder zu einem Lesevergnügen der besondern Art. Das Auto wird etwa zum "Vierrad-Wohnzimmer", Sex zum "Schaukeltest" und der sprichwörtliche Trick 17 zum "Einserschmäh".

Kapitel 1 nennt Wolf Haas übrigens "On" und Kapitel 2 "Off". Die beiden Schalter sollte man nicht verwechseln, sonst passiert einem das, was auch dem Elektriker Marko Steiner passierte (siehe oben). Aber es wäre kein Wolf Haas, wenn am Ende nicht doch noch die Liebe siegt. Denn ganz spielerisch hat er auch noch eine Romanze in seinen Roman eingebaut. Eine Liebe unter Kollegen. Was sich Trauerredner wohl so erzählen? Jedenfalls wird Franz Escher nie mehr "Bruchlandung" mit "Buchhandlung" verwechseln, denn Bücher werfen tatsächlich Zinsen ab. 

Anders als das "Puzzeln": wer sich zu sehr auf den Puzzleschnitt konzentriert, verliert das Bild (das große Ganze) aus den Augen. Wie Wolf Haas die beiden Schicksale von Franz Escher und Elio Russo verknüpft, ist ein intellektuelles und sprachliches Vergnügen, das der Lithografie von M. C. Escher neues Leben einhaucht und wieder einmal beweist, dass das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teile.

Wackelkontakt
Wackelkontakt
240 Seiten, gebunden
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