Es ist nicht alles so, wie es scheint
Ein Privatflieger auf dem Weg von Martha's Vineyard nach New York stürzt ab. Nur der Maler Scott Burroughs und JJ, der vierjährige Sohn des Medienunternehmers David Bateman, überleben. So beginnt "Vor dem Fall" - grossartig, überaus plastisch und spannend geschildert von Noah Hawley, dem man den Drehbuchschreiber anmerkt.
Neben den beiden Piloten, der Stewardess und dem Leibwächter, sterben bei dem Absturz David Bateman, dessen Frau Maggie und die neunjährige Tochter der beiden sowie das Ehepaar Ben und Sarah Kipling. War es ein Unfall, war es Sabotage? Hatte der Absturz mit der Vorgeschichte eines der Menschen an Bord zu tun?
Natürlich interessieren sich die Medien für Scott, der sich diesen jedoch zu entziehen versucht. Und sie interessieren sich auch für JJ, der fortan bei der Schwester seiner Mutter und ihrem versoffenen, gierigen Mann aufwachsen soll.
Dieses Szenario erlaubt dem Autor einen fulminanten medienkritischen Rundumschlag. "CNN, ABC, CBS, sie verkauften die Nachrichten wie Lebensmittel im Supermarkt: für jeden etwas. Aber die Menschen wollten nicht nur Informationen. Sie wollten auch wissen, was sie bedeuteten. Sie wollten Perspektiven. Sie wollten etwas haben, worauf sie reagieren konnten. Ich stimme zu, ich stimme nicht zu ... Seine Idee war es, die Nachrichtensendungen in einen Club der Gleichgesinnten zu verwandeln ...".
Besonders gut gelungen ist die Schilderung des Stars dieses Senders der Gleichgesinnten - ein wütender, selbstgerechter und ungehobelter Missionar. Genau wie die Propagandisten bei Fox News. Ohne jegliche Orientierung an Fakten, nur Gefühle und Meinungen.
"Vor dem Fall" bedient sich vieler Rückblenden. Der Leser (und die Leserin) erfährt nicht nur von David und Maggie Batemans Werdegang, sondern auch von Ben Kiplings Geldwäscheaktivitäten, die diesen zum Zeitpunkt des Absturzes in existenzielle Schwierigkeiten gebracht haben - am Ende des Fluges wartete das Gefängnis auf ihn.
Der Autor versteht es bestens, ganz verschiedene Möglichkeiten anzudeuten, die als Grund für den Absturz hätten in Frage kommen können. Doch "Vor dem Fall" ist nicht nur ein clever gemachter Thriller, sondern auch der Versuch, "einen grossen Gesellschaftsroman in der Tradition von Tom Wolfes Weltbesteller 'Fegefeuer der Eitelkeiten'" zu Papier zu bringen, wie der Verlag schreibt. Ist er gelungen? Schwer zu sagen, doch den Sog, der mich bei Tom Wolfes Büchern unweigerlich erfasst, verspürte ich bei Noah Hawley nicht.
Zudem: Irritierend fand ich das Nebeneinander von philosophischen Einsichten ("Leibwächter zu sein, bedeutete nicht, dass man in einem ständigen Alarmzustand lebte. Man musste offen für Veränderungen im Lauf der Dinge sein, empfänglich für subtile Verschiebungen ... Wenn man es genau bedachte, war der private Sicherheitsdienst eine Form des Buddhismus oder Tai Chi. Man lebte im Augenblick, fliessend und ohne an mehr zu denken als daran, wo man ist und was einen umgibt.") und platten Klischees ("In seiner Zeit als privater Sicherheitsbeauftragter hatte er mit einigen der schönsten Frauen der Welt geschlafen, mit Models, Prinzessinnen und Filmstars. In den Neunzigerjahren kursierte die Theorie, er habe Angela Jolie entjungfert.")
Trotzdem: "Vor dem Fall" ist ein gutes Buch, ein wirklich gutes Buch. Das liegt zu einem grossen Teil daran, dass es überzeugend aufzeigt, wie Voreingenommenheiten und Verschwörungstheorien unsere Wahrnehmung nicht nur beeinträchtigen, sondern in die Irre führen. "Sie haben entschieden. Er habe etwas zu verbergen, aber vielleicht können Sie auch nur nicht akzeptieren, dass das Leben voller x-beliebiger Zufälle ist, und dass nicht alles, was bedeutsam zu sein scheint, auch bedeutsam ist."
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