Über Grauzonen des Lebens
Auf frömmlerisch kolorierte, erbauliche Reden und die monotone, narkotische Litanei der strukturellen Kirchenreform, die hierzulande beliebt ist, verzichtet Papst Franziskus in Gespräch und Betrachtung stets und äußert sich stattdessen lebensklug, weise und nachdenklich. Das Oberhaupt der katholischen Kirche adressiert seine Überlegungen an alle Interessierten, an Gläubige wie an Skeptiker, an Suchende, Zweifelnde und Andersgläubige. Franziskus, der Jesuit auf dem Stuhl Petri, betreibt keine müßige Kirchenpolitik, er spricht von seinem Gott und der christlichen Existenzweise. In dem neuen Gesprächsbuch mit dem Gefängnisseelsorger Don Marco Pozza werden auch philosophische Themen erörtert, Fragen der Ethik, unter den bekannten Begriffen wie Laster und Tugend, lebensnah, anschaulich und bedenkenswert. Im Vorwort schreiben die Autoren über die "Grauzone" des menschlichen Lebens: "Keine Geschichte ist ausschließlich von der Tugend und keine Geschichte ist ausschließlich vom Laster geprägt."
Franziskus sagt, die meisten Menschen seien eine "Mischung aus Tugenden und Lastern". Er nennt das Laster "parasitär", die Tugend beschreibt er anschaulich als "Vitamin": "Sie lässt dich wachsen, du kommst voran." Es ist also gut, gut zu sein und dann gut zu leben.
Die Leser schmunzeln, wenn sie die Worte von Franziskus hören – und dann schmunzeln sie nicht mehr.
Aber die Laster bleiben beständige Versuchungen, sie erscheinen als das anstrengungslose Gute, das den Menschen inwendig verzehrt: "Das Laster ist eine negative Geschenkhaftigkeit. Es ist wie diese Onkel und Tanten, die die Kinder verziehen, indem sie ihnen ständig Bonbons schenken … Wie gut das schmeckt. Aber dann kommen die Bauchschmerzen." Die Leser schmunzeln, wenn sie die Worte von Franziskus hören – und dann schmunzeln sie nicht mehr. Sichtbar wird also, dass die weltliche Genusssucht verlockend sein kann, aber dass derjenige, der lasterhaft lebt, sich gewissermaßen selbst vergiftet. Er meint, dass er sich etwas Gutes tut, aber es ist nicht gut für ihn, es ist mehr als unbekömmlich und tut weder ihm noch seinen Mitmenschen gut. Ein Laster sei auch die Bequemlichkeit. Wer sich "mit allen gut stellen" wolle, weiche der Unterscheidung aus. Mancher mache sich zu einem "Sklaven der Kompromisse", ein anderer, ein korrupter Mensch, nehme die "Abkürzungen des Opportunismus" und verinnerliche die "Maske des ehrenhaften Menschen". Der Korrupte kenne weder Brüderlichkeit noch Freundschaft, nur Komplizenschaft und Feindschaft. Franziskus plädiert für Gerechtigkeit und ruft dazu auf, gegen Korruption vorzugehen und dennoch an die Türen aller, die ihr verfallen sind, anzuklopfen, auf eine Änderung der Art des Denkens und des Lebens zu hoffen."Der Zorn verkehrt alles, was richtig ist, in sein Gegenteil."
Geschwächt werde ein Mensch oft von dem Laster des Wankelmuts, den Franziskus als eine "Art Bremse" beschreibt, die dem Leben die Kraft raube: "Der Wankelmut schwächt die Freiheit, und der Wankelmütige endet in den Händen der Laster, die ihn beherrschen. Er kommt nicht voran, er hat nicht den Mut, sich seinen Willen oder sein Ideal vorzunehmen und es heute, in diesem Augenblick, zu verwirklichen. Die Philosophie des »ja, aber« …" Besonders junge Menschen sind dem Wankelmut ausgesetzt. Sie verfielen der Willenlosigkeit und würden von ihr innerlich angegriffen und förmlich aufgezehrt. Nötig sei, dieses Laster zu benennen, durch "echte Prophetie", die "sehr konkret" sei: "Das sind Menschen, die durch ihr Zeugnis beweisen, dass das Evangelium möglich ist. Die Kirche ist prophetisch, wenn wir alle unsere Pflicht tun, das heißt dienen." Es sei eine Stärke, "deutlich" zu werden und vor allem den "Dienst an der Wahrheit" zu tun, nicht wankelmütig und gleichgültig zu bleiben. Damit kritisiert der Papst auch die Struktur- und Gestaltungsgläubigkeit der säkularen Kirchenbehörden, die scheinbar effiziente, "pastorale Projekte" sich ausdächten. Diese würden nicht gebraucht, so wenig wie die "Zustimmung der Welt". Nötig seien Menschen, "die von der Liebe zu Gott erfüllt sind": "Du willst eine prophetische Kirche? Fange an, zu dienen, und sei still. Nicht Theorien, sondern Glaubenszeugnisse."Papst Franziskus spricht zudem von etwas Diabolischem – und das sei der Zorn, der "uns dem Teufel ähnlich" mache: "Seine Berufung ist die Zerstörung. Der Zorn verkehrt alles, was richtig ist, in sein Gegenteil." Dagegen setzt er die Mäßigung. Auch der "Tratsch" töte, dieser sei ein "Akt des Zorns mit gesenkter Stimme": "Ich erzähle dir etwas und beschmutze den anderen. Das ist ein leiser Zorn, der trotzdem tödlich sein kann. Ihm fehlt die Mäßigung, den anderen Menschen wachsen zu lassen, den anderen zu respektieren. Nein, ich töte ihn mit meiner Zunge und Punkt. Wer zum Zorn neigt, hat das Bedürfnis, zu zerstören, er fühlt sich als Person, wenn er zerstört, wenn er angreift. Wer sich dagegen zu mäßigen vermag, hat begriffen, dass man die Dinge in Frieden wachsen lassen muss."
Don Pozza fragt, wenn der Papst von Gott gebeten würde, sich eine Tugend als Geschenk auszusuchen, welche wählte er? "Ah, die Hoffnung! Ganz sicher."
Diese tiefgründigen Einsichten von Franziskus öffnen vielleicht auch Ungläubigen die Augen – und sogar Gläubigen, die alles zu wissen meinen. Überhaupt, der Glaube – was sagt der Papst darüber? Glaubenskrisen seien "keine Glaubensversäumnisse", vielmehr offenbarten diese "das Bedürfnis und den Wunsch, immer tiefer in das Geheimnis Gottes einzudringen". Viele kennen auch das Gefühl der Abwesenheit Gottes. Es ist, als weitete sich die Leere aus, in der Welt und im Menschen selbst. Trotzdem, so Papst Franziskus, kehrten sich viele Menschen, die meinen, dass sie von Gott verlassen seien, nicht ab vom Glauben: "Sie hüten das Geschenk: Im Moment fühle ich nichts, aber ich hüte das Geschenk des Glaubens. Einem Christen, der diesen Gemütszustand noch nie mitgemacht hat, fehlt etwas, denn das bedeutet, dass er sich zufriedengibt. … Ein Glaube ohne diese Prüfungen lässt mich an seiner Echtheit zweifeln, denn wo Glaube ist, wird immer auch der Teufel versuchen, ihn zu zerstören." Besonders den "Halbglauben" kritisiert der Papst. Die "Luft des Halbglaubens" sei wie "Kohlenmonoxid, das aus defekten Öfen austritt". In der "Lauheit" werde Glaube zur "Gewohnheit" oder zu einem "bloß kulturellen Erlebnis, aber man spürt ihn nicht, man lebt ihn nicht": "Die Lauheit kommt herein, macht dich schläfrig, und am Ende stellst du fest, dass du den Glauben verloren hast." Doch Franziskus spricht auch von Hoffnung, von Hoffnungen, die ganz alltäglich sind, die "Hoffnung des Alltags", die "kleine Hoffnung, die sich in den Winkeln unseres Lebens verbirgt und uns weitermachen lässt". Don Pozza fragt, wenn der Papst von Gott gebeten würde, sich eine Tugend als Geschenk auszusuchen, welche wählte er? "Ah, die Hoffnung! Ganz sicher." Dieses kluge Buch schenkt wundervolle, anschauliche und menschenfreundliche Bilder aus dem Leben, wertvolle Einsichten und Augenblicke der Hoffnung – und ist darum ein Lesetipp für Gläubige und Ungläubige, vielleicht für alle Menschen, die noch Hoffnung haben oder wieder hoffen lernen möchten.Bekenntnisse eines Theologen
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