Reflexionen auf hoher See
Kap Zorn, Cape Wrath, ist der nördlichste Punkt des schottischen Festlandes und markiert den stürmischen Außenposten des britischen Königreiches, dort, wo Nordsee und Atlantik aufeinander treffen. Kap Zorn ist auch der Titel eines über mehrere Jahre entstandenen Reisebuches von Björn Larsson, einem passionierten schwedischen Segler, der zusammen mit seiner Frau Helle über sechs Jahre lang auf seinem Segelboot "Rustica" die Gewässer der gefährlichsten Meere Europas kreuzte: Die Nordsee, die Biscaya, den nordwestiberischen Atlantik vor der "Küste des Todes", den Ärmelkanal und das Revier vor Irlands Südküste. Während dieser Zeit war die "Rustica" das einzige Zuhause des Paares, welches sich für die Zeit von allem festen Besitz trennte. Dabei ist Larsson bei weitem kein typischer Abenteurer vom Schlage eines Arved Fuchs oder Rüdiger Nehberg: Er ist vielmehr ein Beobachter, ein Freiheitssuchender, ein Sehnsüchtiger, ja ein Philosoph. Larsson beschreibt sich selbst als ruhelose und entwurzelte Seele, den die pure Lust am Reisen, "des Menschen urälteste Lust", aufs Meer trieb, welches ebenso ruhelos die Reisenden aller Länder empfängt, belebt oder versinken lässt. Larsson, Jahrgang 1953, verbrachte 22 Jahre seines Lebens im Ausland, in Irland, Dänemark, auf dem Nordatlantik und in Frankreich. Heute lehrt er französische Literatur an der Universität von Lund, Schweden und hat nach eigenen Worten sein Ziel erreicht, bis zum vierzigsten Lebensjahr nicht in allzu feste Bahnen zu geraten. Als literarisch-philosophisches Vorbild zitiert Larsson in Kap Zorn immer wieder den schwedischen Schriftsteller Harry Martinson und seine Bücher "Cape Farewell" (Kap Lebewohl) und "Reisen ohne Ziel". Nach Martinson, der laut Larsson aufgrund seiner sprachlichen Kraft als kaum übersetzbar gilt, ist "die Lust am Reisen des Menschen ureigenste Bestimmung, auch wenn Hunger und Liebe zu ihrem Recht gelangten". So beobachtet Larsson die Menschen und die Welt, wie sie sich von seinem Boot aus darstellen, zwar auch mit neugierigem Blick im Stile eines Paul Theroux oder Bruce Chatwin, doch ist der Blick eher nach Innen gerichtet und erinnert an Henry David Thoreau's Walden oder Prentice Mulford's "Sinn und Unfug des Lebens und Sterbens". Der Kosmos des Schreibenden ist die Weite des Meeres, die allerdings keine Flucht nach außen darstellt, sondern vielmehr eine Emigration nach Innen, nach sich selbst. Larsson und seine Gefährtin begegnen immer wieder Weltumseglern in den Häfen rund um Nordsee und Nordatlantik - teilweise ist es ein Wiedersehen, teilweise ein Abschied auf immer, doch die Menschen, denen Larsson in den vielen Häfen begegnet, sind stets präsent. Sie beschäftigen ihn - auch Monate, ja Jahre nach der ersten Begegnung, denn in den vielen, stillen Stunden bei nächtlicher Fahrt, wo kein Fernsehen, keine Zeitung, kein Internet irgendeine Nachricht transportieren, verbleiben die letzten Gespräche an Land besonders lange und deutlich. Es ist die Seele jedes Menschen, die mit ihm reist. Björn Larsson segelt mit zwei Kräften: Der Energie des Windes und den Sehnsüchten der Seelen. Gerade Nachts wird das Segeln auf offenem Meer zum transzendentalen Vorgang, der auch Nicht-Seglern spürbar wird. Wer glaubt, die raue Nordsee oder der graue Ärmelkanal stellen kein so interessantes Segelrevier wie die Karibik oder die Südsee dar, wird durch Larsson eines Besseren belehrt: Tatsächlich transformieren verschiedene Faktoren die westeuropäischen Meere zu den gefährlichsten Gewässer weltweit: Intensive Schifffahrt, mächtige Gezeiten, Strömungen, Nebel, Tidenhub, Sandbänke, ja vor allem verloren gegangene Stahlcontainer, die wie unsichtbare Eisberge ein Boot bei Kollision kentern lassen können, stellen eine hohe Herausforderung für den Segler dar: Spätestens bei der Beschreibung einer Fahrt vom französischen Cherbourg Richtung belgisches Dunkerque wird deutlich, dass der Ärmelkanal nichts für Anfänger ist. Larsson schildert die Fahrt in stürmischer See derart intensiv und gleichzeitig distanziert, dass der Leser meint, hier filmt jemand vom Flugzeug aus eine Transatlantik - Fahrt. Larssons Buch ist weder ein Roman, noch ein Seglerbuch, sondern eher, wie er selber angibt, eine Reflexion mit Gedanken über das Leben, vom Deck eines Segelbootes aus betrachtet. Larsson hofft, dieses Buch würde eine Inspirationsquelle sein, "für diejenigen, die noch von einem anderen Leben träumen." Ganz sicher ist "Kap Zorn" eine solche Quelle. Larsson hat sie bereits gefunden…
Kap ZornGrenzgängerinnen
Zwei Frauen stehen am Meer. Attraktiv sind sie. Die eine dunkel, die andere blond, in Sommerkleidung mit weißen T-Shirts und Tennisschuhen. Sie wirken wie Schwestern, Hand in Hand an der italienischen Riviera. Doch sie sind unterschiedlich - von Geburt: die eine Muslimin, die andere Christin, mit einer gemeinsamen Vergangenheit, die sie wiederum verbinden. Beide sind Libanesinnen, die vor 15 Jahren ihre Heimat verließen. Aus diesem Spannungsfeld entwickelt die renommierte Schriftstellerin Hanan al-Shaykh ihren jüngsten Roman "Zwei Frauen am Meer". Vorsichtig führt Al-Shaykh in beider Vorgeschichte ein, in ihre Erlebnisse, Sehnsüchte, den Kampf um Freiheit. Schritt für Schritt lernt der Leser Geschichte und Geschichten kennen, setzt die Ausschnitte nach und nach zu einem immer klareren Bild zusammen. Wechselweise aus der Innenperspektive schildert sie die Erinnerungen ihrer beiden unterschiedlichen Protagonistinnen, die sich in ihren Gefühlen und Wünschen wiederum so ähnlich sind. Da ist die zurückhaltende Muslimin Hoda, die sich Schritt für Schritt von ihrer tief religiösen Familie entfernt. "Mein Gott" flüstert sie, als sie sich zum ersten mal in einem Badeanzug sieht, "jetzt trage ich einen Badeanzug". Auch heute bleibt der jetzigen Theaterregisseurin diese Welt und ihre Überwindung bei jedem Schritt allgegenwärtig. Auf der anderen Seite Yvonne, die selbstbewusste Draufgängerin und erfolgreiche Chefin einer Werbeagentur. "Ich bin am Meer geboren" erzählt sie den jungen Italienern, als sie von den hohen Felsen springt. Auch für sie bleibt ihre Vergangenheit und ihre Heimat Libanon immer präsent - als ein Ort der Erinnerung an ihre Kindheit, bevor der Bürgerkrieg sie zerstörte. "Das Meer kletterte in Yvonnes Bett und nistete sich in ihren Gedanken ein". Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nun stehen sie im gemeinsamen Urlaub am Strand - die eine zu Besuch aus Kanada, die andere aus London - und erinnern sich an ihre erste Begegnung mit dem Meer. Denn wegen des Meeres haben sie im Leben viel gelitten und es dann doch zum Symbol für die Emanzipation aus ihren Familienbanden gemacht. Hoda durch ihre früheren verbotenen Ausflüge ins Frauenbad von Beirut und die daraus resultierende Trennung von der strenggläubigen Familie. Für Yvonne als Quelle für Stärke und Selbstvertrauen genauso wie für ihre Trennung von der Familie. Beide sind auch auf der Suche nach der Liebe. Hoda nach ihrem ersten Mann, Yvonne nach dem Partner, der mal nicht vor ihrem Selbstbewusstsein davon läuft. Und beide werden Männern begegnen - Hoda dem Ingenieur Alberto, Yvonne dem jungen Luigi. Die im Jahre 1945 geborene Libanesin Hanan al-Shaykh zählt zu den bekanntesten Autoren ihrer Heimat. Mit "Zwei Frauen am Meer" hat sie einen besonderen Roman geschrieben. Warm, ruhig und intensiv in der Sprache. Und vor allem voller Symbole und Bilder. Weiße Felsen werden zu gigantischen Stiften, "wie Kakteen, teils glatt, teils rauh, gezackt mit weiter, runder Oberfläche wie ein freundliches Gesicht", andere zu wilden Hengsten, "fahlschwarz und porös wie Zähne". Wachsende Brüste verbindet Yvonne mit Eiern, die aufbrechen, bevor man sie in die Pfanne wirft, Hoda erinnert buschiges Schamhaar an die "braunen Fäden von Maiskolben" und das Meer an Zuckerwatte: "Je mehr sich davon im Mund auflöst, desto gieriger verlangt man danach." Die Beiruter Autorin erzählt von zwei emanzipierten Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft, deren Freundschaft auch kulturelle Grenzen nichts anhaben können, von zwei aufeinander prallende Welten, dem gestern und heute, die sich für einen Tag am italienischen Meer vereinen. Dabei sind beide Frauen Grenzgängerinnen geblieben, die jeden Schritt, jeden Geruch, jedes Erlebnis in Verbindung mit einer Vergangenheit bringen, die weit zurück liegt, aber in diesen Momenten wieder hervorsticht.
Zwei Frauen am Meer