Prachtband über die Lagunenstadt
Wir wissen jetzt schon, was sie sagen werden, wenn Venedig schließlich doch untergegangen sein wird: "Es hat nie eine Stadt in der Lagune gegeben. Alles Erfindung.", wie Günter Kunert in einem Gedicht in vorliegendem Erlebnis-Reiseführer schreibt. Denn Venedig ist so märchenhaft, dass es wie eine Fata Morgana in einer Wasserwüste erscheint: würde es sie nicht geben, müsste man sie erfinden und selbst dann würde sie die Illusion von ihr noch übertreffen. "Die Stille Venedigs ist tiefer als die einer unbewohnten Landschaft", schreibt Ernst Bloch, "denn es ist keine, die von Menschen selber abstrahiert. Hier ist Ruhe, mitten in Italien, einem der lärmtreibendsten Länder der Welt". Selbst der philosophische Altmeister, Friedrich Nietzsche, war der Serenissima voller Zärtlichkeit zugetan: "Wenn ich jenseits der Alpen sage, sage ich eigentlich nur Venedig. Wenn ich ein anderes Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig. Ich weiß keinen Unterschied zwischen Tränen und Musik zu machen, ich weiß das Glück, den Süden nicht ohne Schauder von Furchtsamkeit zu denken.", schrieb er im Ecce homo. Der Wasserspiegel ist seit 1910 um 23cm gestiegen, die Bevölkerung von 175'000 (1951) auf heute 60'000 gesunken. Wer mehr über Venedig wissen will - und vor allem wie lange es noch steht - ist in vorliegender Publikation des Corso Verlages, einem Prachtband über die Lagunenstadt mit all ihren Facetten, sehr gut aufgehoben.
"Venedig=idealer Therapeut aller Leiden"
Herbert Rosendorfer erzählt von einer Begegnung der unheimlichen Art mit einem gewissen Gulden, der ihn zu einer Shakespeare-Aufführung an einem illustren Ort in Gegenwart John Ruskins führt und Eleonore Duse in der Hauptrolle brillieren lässt. Auch die Nachfahren Shakespeares sind anwesend und Rosendorfer kann die Person entschlüsseln, die allgemein unter dem Namenskonglomerat firmiert. Eine wenig inspirierte Geschichte des Literaturpreisträgers, die es zwar vermag, etwas Lokalkolorit zu verbreiten, aber dennoch ungeeignet erscheint, die eigentliche Faszination Venedigs auch nur annähernd zu erklären. David Marc Hoffmann trifft Nietzsche auf der Piazza San Marco und widmet sich ausführlich dessen Erlebnissen in der Lagunenstadt: "Hier wohne ich gut, ruhig habe eben den warmen Ofen; der Markusplatz ist in der Nähe. Gestern schön, aber kalt, doch konnte ich Nachmittags im Freien Café trinken, bei Musik alles war mit Fahnen geschmückt, und die Tauben von St. Marcus flogen friedlich umher. Lauter schattige Sträßchen mit hartem, ganz glatten Pflaster", schrieb kein Geringerer als der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche ausgerechnet seiner Mutter aus Venedig. Nietzsche hatte mehrere Kuraufenthalte in Venedig verbracht, bevor er Nizza ("der erste Ort, an dem ich möglich bin") und Turin zu "seinen Städten" kürte. In Venedig hatte er auch die Schlusskorrektur des vierten und letzten Teils seines Zarathustra fertiggestellt und von dort aus an ausgewählte Freunde verschickt. Gewohnt hatte er damals ausgerechnet bei einer putana veneziana, wie er später bei seinem Quartiermeister Köselitz spöttelte. Vor seinem völligen geistigen Zusammenbruch soll Nietzsche auch das Gedicht "An der Brück stand einst ich in brauner Nacht" geschrieben und es als Gondellied sogar gesungen haben. Venedig war mehr nur als die Projektionsfläche seiner Wünsche, Pläne und Vorstellungen.
Schönheit und Schmutz
Horst Günther weiß, dass ohne die Fórcola nichts geht und dass jeder Fórcola eine Prua (der Bug) vorsteht, der im Falle von Venedigs Gondeln aus Metall und ganz schön schwer ist: die sechs Querbalken der Prua-Figur symbolisieren die Sestieri Venedigs und sorgen auch für das Gleichgewicht der reichlich asymmetrischen Gondeln, in denen sechs verschiedene Holzarten verbaut werden, 32 mal fünf Fuß groß. Ein Balken der Prua-Figur weist aber in eine andere Richtung: der siebte, er steht für die Giudecca, die lange Insel südlich der anderen sechs Stadtteile. Von den Gondeln gab es bis ins 16. Jahrhundert sage und schreibe 10'000, doch heute sind es nur mehr 500. Im Gegensatz dazu verursacht nur ein einziges Kreuzfahrtschiff das den Canale della Giudecca passiert so viel Abgase wie 12'000 (!) Autos, schreibt Peter Kammerer in seinen "Szenen einer Ehe" zwischen Stadt und Meer. Julia Schoch gibt der Bezeichnung Tourist eine neue, euphemistischere Bedeutung, da er ihr (der Stadt) die einzige noch mögliche Energiezufuhr liefert und wartet auch mit einer Neudefinition von Heimat auf, die nun nicht mehr dort ist, wo das Herz ist, sondern, vor allem dort, wo sich nichts verändert. Die Kunsthistorikern und Carpaccio-Spezialistin Anna Degler erzählt vom Weg allen Fleisches und dass nicht nur die Reliquien des Hl. Markus, sondern auch jene des Hl. Georg in Venedig ruhen: in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni ruht sein Kopf und seine Gebeine und Arme finden sich in der Schatzkammer des Markusdoms. Venedig hat aber nicht nur quasi die Pest miterfunden, sondern auch die Provveditori alla Sanitá, die dafür sorgen sollten, dass hygienische Standards eingehalten würden (1485). Auch die erste städtische Müllabfuhr wurde 1493 in Venedig gegründet. Harald Martenstein erzählt von seinen ersten journalistischen Gehversuchen bei den Filmfestspielen Venedigs, der Biennale und Wolfgang Kemp vergleicht Venedig mit Las Vegas.
Dazu viele Fotografien, Tiraden und Geschichten, Gedichte und Einblicke in die wohl schönste Stadt der Welt.
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