Lars Gustafsson: Variationen über ein Thema von Silfverstolpe

Über die Zeit

Dichtung und Klangkunst sind nicht nur heimliche Gefährten, sondern auch eng miteinander verwandt. Zahlreiche Lyriker besitzen ein feines Gespür für die Musik der Sprache und komponieren ihre Gedichte auf gewisse Weise in ihrer eigenen Tonart. Lars Gustafsson reist mit lyrischer Musikalität auf den Spuren von Johann Sebastian Bach, nur sehr viel sanfter als der Leipziger Thomaskantor, nicht mit revolutionärer Kraft, aber mit einer vergleichbaren Sensibilität.

Gustafsson nimmt den Leser hinein in den Horizont der Zeitlosigkeit, in eine Sphäre, in der nicht gerechnet und gezählt wird. Wer die Zeit zu messen trachtet, ob nach Stunden, Tagen oder Jahren, dem bescheidet er knapp und eindeutig – „nichts von alledem“, aber doch eines bleibt, nämlich „Angst“, die Angst vor der verrinnenden Zeit, vor der unaufhaltsam und doch so leise nahenden Endlichkeit. Doch dann entsinnt sich das lyrische Ich einer Jahreszeit, genauer gesagt, eines Monats, nämlich des Aprils, der der „klügste Monat“ sei, ein Monat mit einem „trockenen Braun im Erdboden“ – und diese Farbe wird sogleich verknüpft mit einem Musikstück von Alban Berg. Die schwer fassbare Zeit bietet doch Raum zum Sinnieren:

 

„Stunden, was wart Ihr?
Besucher, die niemals bleiben wollten.
Augenzeugen,
die schwiegen.“

 

Nicht wir haben die Zeit, so heißt es, sondern die Zeit hat uns. Die Stunden gleichen „glasklaren Behältern“, doch dann sind sie gefüllt, verbraucht, Lebensbeobachter, eilige Gäste, die nicht innehalten. Wer über die Zeit nachdenkt, tut dies selbst in der Zeit. Nimmt er sich die Zeit dafür? Oder verhält es sich umgekehrt, dass die Zeit sich seiner bemächtigt? Es ist, als schauten die vergehenden Stunden zu, bezeugten also das Geschehen, die Vergänglichkeit, scheinbar unbeteiligt. Die Zeit brauche auch die Uhren nicht, aber die Uhren benötigten die Zeit, denn sonst könnten sie nichts messen. Gustafsson stellt fest, wie die Zeit eilends entschwindet: „Der Junge da, der eben laufen lernte, / spielt plötzlich Cello, / so, dass man es im ganzen Haus hört.“ Die Zeit rauscht fort, Stunde um Stunde, Jahr um Jahr: „Und hilflos sieht man, wie das Nichts geschieht.“ Niemand kann die Zeit einhegen und festhalten, Freunde verschwinden, gehen dahin, wie religiöse Menschen sagen würden – für immer nach Hause. Doch wer weiß es genau? Gustafsson bleibt der Endlichkeit treu und spricht vom Verschwinden derer, die mit uns das Leben teilten. Wenn sie gegangen sind, so sind sie, einmal verschwunden, „auch unser eigener Tod“. Die Verstorbenen nehmen alles mit, auch die Verbundenheit mit uns, und was war, das löst sich auf. Für Lars Gustafsson mündet der Fluss der Zeit in einen Choral:

 

„Jetzt rinnt die rasche Zeit dahin.

Der Wellen kurze Schläge und des Windes Laut
und diese Schwärme kleiner, schneller Fische,
die verschwanden, als der Schatten fiel.

Aus diesem Stoff war meine Welt gemacht,
die Welt aus kurzen Wellen,
die auf sehr alte Steine schlagen.“

 

Lars Gustafsson musiziert auf seine ganz eigene Weise. Aber lässt er sich inspirieren von Bach? Die Leserschaft mag zweifeln. Der Komponist bleibt im Hintergrund, verborgen, gut versteckt. Gustafssons Lyrik ist frei von Wucht und Orgeldonner. Er schreibt leise Gedichte. Vielleicht erkennt mancher Leser, der dem inspirierenden Klang dieser Lyrik einen Resonanzraum schenkt, Johann Sebastian Bach trotzdem darin wieder – ein ungewohnter Zwischenton, wider alles Erwarten, als eine ganz andere, nicht auszuschließende Möglichkeit.

Variationen über ein Thema von Silfverstolpe
Kristina Maidt-Zinke (Übersetzung)
Stephan Opitz (Übersetzung)
Variationen über ein Thema von Silfverstolpe
Gedichte
80 Seiten, gebunden
Originalsprache: Schwedisch
Wallstein 2025
EAN 978-3835358171

Der doppelte Cleveland und der doppelte Trump

Insgesamt 47 Präsidenten haben bislang die Vereinigten Staaten regiert. Ein bei C. H. Beck neu erschienener Band stellt sie einzeln vor.

Die Präsidenten der USA

Glamourös leben

Ein anregendes Buch für alle, die sich nicht nach einem konsequenten Amoralismus sehnen, sondern von einer Welt träumen, in der Glamour möglich und wirklich ist – und in der zugleich der Mensch spielerisch und ungeniert sich seines endlichen Lebens endlich wieder erfreuen kann.

Glamour

Über Imperien in Syrien-Palästina

Diese ebenso reichhaltige wie umfangreiche Studie ist die erste Monographie, die sich schwerpunktmäßig mit der ptolemäischen Herrschaftszeit in Syrien-Palästina befasst. Ein in jeder Weise herausragendes Buch.

Imperialer Wandel und ptolemäischer Imperialismus in Syrien

Träume von einem fernen Land

Das „ferne Land“ der Phantasie und Poesie, zuweilen auch der Erinnerung, besingt der gefühlvolle Poet Giovanni Pascoli wider alle Schwermut, mit der seine Gedichte bezeichnet sind.

Nester

Geerbte Schuld

Heimanns dominante linke Hand macht sich unkontrollierbar selbstständig. Sie führt ein regelrechtes Eigenleben: würgt seine Freundin und bringt ihn ins Gefängnis. In der Zelle hat er endlich Zeit zur Besinnung auf sich selbst. Und die Hand hilft ihm dabei.

Die widerspenstige Hand

Die Träume der anderen

Joan Didion, die bekannteste Essayistin Amerikas, über die Sechziger Jahre, Außenseiter oder sogar John Wayne.

Slouching Towards Bethlehem