Deutsch differenziert
Deutsch ist nicht gleich Deutsch. Das merkt man spätestens, wenn man eine deutsche Tageszeitung mit einer schweizerischen oder österreichischen vergleicht. Es finden sich "grobe" Unterschiede, wie das Tram bzw. die Strassenbahn oder klecksen bzw. sudeln, und Feinheiten, wie die Geburtsurkunde bzw. der Geburtsschein oder der Dunstabzug bzw. Dampfabzug. Solche Varianten des Deutschen werden im vorliegenden Werk versammelt.
Eine Schlüsselfrage bei einem solchen Wörterbuch ist, welche Wörter aufgenommen werden und welche nicht. Nicht berücksichtigt wurden natürlich Wörter, die dem Dialekt zuzuordnen sind. Aber auch Wörter der Umgangssprache wurden ausgeklammert. Die Abgrenzung ist allerdings alles andere als immer eindeutig. Deshalb wurde sinnvollerweise die Bezeichnung "Grenzfall des Standards" eingeführt. Hierzu gehören Wörter, die eigentlich dem Dialekt oder der Umgangssprache zuzuordnen wären, aber häufig in Standardtexten vorkommen, beispielsweise der Dippel (aus Österreich für Schwellung, Beule) oder der Chlapf (aus der Schweiz für Knall, Schlag) oder der Gluckser (aus südwest-Deutschland für Schluckauf).
Die Artikel enthalten folgende Informationen: Nationale und regionale Zuordnung, Grammatik, Aussprache und Lautschrift, Etymologische Angaben, Varianten, Bedeutung, Belege und der "Dazu-Teil" mit Ableitungen und Komposita zum Stichwort. Ausserdem sind Zusatzangaben enthalten wie Stil (z.B. abwertend, ironisch), Frequenz (selten) oder Alter.
Dem Wörterbuch-Teil vorangestellt sind Ausführungen über die nationalen Voll- und Halbzentren des Deutschen. Die Unterscheidung von unterschiedlichen Sprachzentren basiert auf dem Konzept der plurizentrischen Sprache. Diese Bezeichnung wird bei Sprachen verwendet, die "in mehr als einem Land als nationale oder regionale Amtssprache in Gebrauch" sind. Das Englische, Spanische und Portugiesische werden beispielsweise auch dazu gezählt. Wenn die standardsprachlichen Besonderheiten in eigenen Nachschlagewerken (z.B. in Österreich, der Schweiz und Deutschland) festgehalten sind, spricht man von einem Vollzentrum, wenn solche Nachschlagewerke fehlen, spricht man von Halbzentren (Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol).
Das besondere am Konzept der plurizentrischen Sprache ist, dass jegliche Hierarchie abgelehnt wird. Die sprachlichen Besonderheiten sollen gleichberechtigt behandelt und nicht als eine Abweichung von einer nationenübergreifenden Standardsprache abgewertet werden. Diese Vorstellung ist zwar ganz hübsch, in der Realität wohl aber nicht sehr verankert. Ein Lokalmedium kann seine lokale Verankerung durch die konsequente Anwendung der regionalen Besonderheiten der Sprache vielleicht betonen, doch eine überregionale Zeitung müsste wohl damit leben, einfach nicht mehr von allen verstanden zu werden. Insofern gibt es eben doch ein mehr oder weniger allgemeingültiges Deutsch, das über den nationalen und regionalen Besonderheiten schwebt und daher hierarchisch höher eingestuft wird.
Wer, ausser den Sprachwissenschaftlern, wird seine Freude am Variantenwörterbuch haben? Übersetzern wird es gute Dienste leisten, Autoren können ihren Figuren eine authentische Sprache verleihen, Lehrer können dank der aufgeführten Wörter die korrekte Sprache etwas grosszügiger auslegen, der Politiker kann - wenn er nicht seinen Dialekt sprechen "darf" - seine Rede mit etwas sprachlichem Lokalpatriotismus würzen und Werbe- und PR-Fachleute können Zielgruppen direkter ansprechen. Es lohnt sich übrigens auch, das Werk ganz ohne Hintergedanken durchzublättern. Man kommt ins Staunen angesichts der sprachlichen Vielfalt.
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