Heinrich Detering: Untertauchen

Leise Fantasien – eine lyrische Metaphysik der Güte

Germanisten lesen aus Leidenschaft, aber sie ringen mitunter auch mit der Sprache. Kundig wissen Literaturwissenschaftler Werke von gestern und heute vorzustellen, kritisch zu reflektieren und literaturtheoretisch zu analysieren, in einer leider oft so spröden, hölzernen oder betulichen Sprache. Heinrich Detering lehrt an der Universität Göttingen. Besonders ist er Goethe und dessen literarischem Kosmos zugetan. Er tritt als Kenner des Werkes auf, nicht aber als Epigone. Dankbar und freudig sehen wir, dass der Germanist Detering seiner anderen großen Liebe nicht weniger treu bleibt. Er dichtet noch immer. Der international renommierte Wissenschaftler formt und gestaltet erneut Wahrnehmungen, Wahrnehmungsweisen und lichte Momente des Staunens poetisch, vielfarbig und dezent.

Stellen wir uns Heinrich Detering im Werden vor, geboren am 1. November 1959, wenn wir ein Gedicht von ihm lesen, das den Titel "Sommer 1959" trägt? Der Dichter war schon auf dem Weg, das Licht dieser Welt zu erblicken, als er sozusagen im Mutterleib mit durchs Jahr ging. Detering fantasiert staunend – "trug Schwimmhäute bevor ich auftauchte / atmete durch Kiemen nun sieh durch mich / schwimmt noch der Fisch im Dunkel ich bin er". So führt der Weg des Menschen, so entsteht das Leben, auf eine andere Art evolutionstheoretisch gedacht, durch das Wasser hindurch ans Licht. Das Leben beginnt natürlich, also mit der Zeugung. Der Mensch ist ganz Mensch von Beginn an. So würde, mag der Leser denken, der gläubige Katholik Detering sicher sagen, erst geborgen im Dunkel, umgeben von Wärme, Zuneigung und Liebe, dann geboren.

In dieses sehr leise Hohelied der Liebe hinein übrigens fügt sich auch die Dankbarkeit für die Natur, für die Schöpfung. Auch einer sonderbaren Kreatur scheint ein Gedicht zugedacht zu sein. Detering hegt Sympathien für Seegurken, stellvertretend für Lebensformen, die als sonderbar, oft als hässlich wahrgenommen werden. Ihre Schönheit zu entdecken braucht einige Zeit. Jeder ist eingeladen, ein wenig, gern ein wenig länger zu verweilen. Ein meditativer, nahezu kontemplativer Ton verbindet Deterings Lyrik, mit Goethe gedacht wird ein Staunen vor der Natur sichtbar, auch vor der Natur des Menschen. Er dichtet beobachtend, andeutend, zurückhaltend, aber nicht distanziert, dem kostbaren Geschenk der Sprache von innen her verbunden.

Der Poet taucht unter, taucht ein, taucht auf, so könnten wir den Titel des Bandes verstehen. Er schaut zu, wie die Dinge, auch des Lebens sich verändern, im Spiel des Lichts am Tag und auch wenn die Sonne sinkt –"wenn abends im Dämmern die Sachen erwachen / dann regt sich im Schaukelpferd leise der Drachen". Kinder fürchten sich vor den Schatten. Birgt das geliebte Schaukelpferd aber Dämonen in sich, hat es ein verborgenes Ich in sich? Wovon wird die kindliche Fantasie heimgesucht? Bedrohlicher als jeder Schatten scheint doch die Welt draußen vor der Tür zu sein, die machtvollen, zynischen Pädagogen, die gehässigen Mitschüler. Detering regt an, lädt ein, weil er als ein Chronist der Nachdenklichkeit ist, der die Spur des Unheimlichen, Gespenstischen, Schauderhaften im Alltag bemerkt. Natürlich auch erzählt er, weil er sich selbst daran erinnert.

Die biblischen Geschichten dichtet Heinrich Detering nach, spinnt sie fort, so die Erzählung vom barmherzigen Samariter. Die im Neuen Testament geschilderte Begegnung ist gegenwärtig. Der Lyriker begleitet ihn, von innen her, stellt ihn vor, nicht als Helden der Nächstenliebe, sondern als verspäteten Heimkehrer – "es war kein Vergnügen als spät am Abend / ohne Geld und ohne plausible Gründe / müd der Samariter zuhause ankam / als er erzählte". Als er weint, trösten ihn die anderen. Auch der Helfer in der Not braucht Hilfe, Mitgefühl und Verständnis. Auch er lebt von Freundlichkeit und Güte. Vom barmherzigen Samariter, der so wie jeder andere der liebenden Barmherzigkeit bedürftig ist, wendet Detering seinen Blick Lazarus zu. Der Lyriker erkennt auch hier eine verborgene Tragik der Gestalt. Der von den Toten auferweckte Lazarus lebt fort, stirbt aber ein zweites Mal, dieses Mal "endlich", auch endgültig. Lazarus hatte nicht verstanden, warum er hatte zurückkehren dürfen, zurückkehren müssen ins Leben. Auch hatte ihn das "wiederkehrende Licht" so "jäh geblendet". Zugleich habe "der Lärm ihn betäubt und sein Geschenk ihn beschämt". War seine Zeit noch nicht gekommen? So scheint es gewesen zu sein, als ihm, ohne dass er dies wollte, das Geschenk des Lebens erneut zuteil wurde, eine ihn beschämende, vermutlich auch überfordernde Gabe. Auch die biblische Figur birgt Geheimnisse.

Heinrich Detering sieht etwas weiter, tiefer, anders. Ob er in die Erzählungen des Neuen Testaments noch anderes hineinliest? Man mag das denken, aber der Germanist Detering ist als Lyriker auch ein auf gewisse Weise Seelenkundiger, zudem einfach ein gläubiger Mensch, der nach Einsicht sucht, verstehen wie sehen und verstanden wie gesehen sein möchte. Lazarus und der anonym bleibende, auferstandene Christus, der "Erwecker", begegnen einander erneut – "als Lazarus gestorben war / durfte er bleiben wo er war in der Ruhe / im neuen Licht dem fremden Duft den Klängen / und ohne Verwunderung begegnete er / dann auch wieder dem Erwecker von damals / es schien ihm als seien beide erleichtert". Lazarus ist dankbar dafür, dass ihn niemand mehr aus dem Tod, der doch nun das wahre Leben ist, wie es schöner nicht sein könnte, herausreißt. Er verwundert sich nicht, als er Christus begegnet, wie sollte er? Er kennt die Wirklichkeit des Todes und weiß im Glauben, dass er dem "Erwecker" neu begegnen wird. Die bedrängenden Fragen sind verschwunden und zerstoben. Es scheint, als seien "beide erleichtert". Wohltuend ist, dass niemandem aufgedrängt wird, auch dem Leser nicht, dass es heute vernünftig sei, zu zweifeln, zu grübeln oder zu protestieren.

Heinrich Detering dichtet sanft, zärtlich und sorgfältig. Er möchte weder unterweisen noch aufklären. Diese Gedichte bilden ein Gewebe und sind zueinander gefügt, gesammelt, auch klug geordnet. Der Dichter spielt nicht mit Worten. Vielmehr könnten wir sagen: Er schenkt den Worten Leben, lässt sie einfach da sein, lässt sie schweben und schwebend leuchten. Versonnen, auch nachdenklich schaut er seinen neuen Schwebstoffen dann zu. Deterings Lyrik öffnet Horizonte. Vielleicht genügt auch zu sagen, dass sie uns daran erinnert, dass unser Horizont offen ist – und dass wir uns nicht verstecken, nicht untertauchen müssen, so gern wir dies auch immer wieder tun. Manchmal verbergen wir uns sogar vor uns selbst. Heinrich Detering, dessen Dichtungen wir dankbar lesen und aufrichtig bewundern dürfen, könnte verständnisvoll lächeln.

Untertauchen
Untertauchen
Gedichte
95 Seiten, gebunden
Wallstein 2019
EAN 978-3835334441

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