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Hans-Erich Müller, Martin Wrobel: Unternehmensführung

Unternehmensführung in komplexen und dynamischen Situationen

Bei den meisten Publikationen zum Thema "Unternehmensführung" handelt es sich entweder um populäre Managementfibeln im amerikanischen Stil "How to…", welche ein einzigartiges Erfolgsrezept suggerieren, oder um Bücher, die auf einem in sich geschlossenen betriebswirtschaftlichen Managementkonzept basieren und nur den "one-best-way" postulieren. Von beiden Kategorien hebt sich das vorliegende Werk von Hans-Erich Müller, Professor für Unternehmensführung und Organisation an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, und Martin Wrobel, Professor für BWL an der TH Brandenburg und assoziierter Forscher am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG), der sich dort schwerpunktmäßig mit innovativen und wachstumsorientierten Startups befasst, wohltuend ab.

"Megatrends wie Globalisierung, digitale Transformation und Klimawandel sowie nicht zuletzt die Coronakrise zwingen die Unternehmensführung mit Komplexität und Dynamik umzugehen. Vor diesem Hintergrund gilt herkömmliche Planung und hierarchische Steuerung oft als überholt. Management neu erfinden, heißt es nun oft. Dabei hat die Führungsfunktion mehr zu bieten: Strategien, Teams, Interne Märkte und Netzwerke sind keine neuen Themen, weitere kommen hinzu. Integrierte Unternehmensführung bedeutet, dass es nicht einen besten Weg gibt, sondern je nach Kontext unterschiedliche, oft gegensätzliche Perspektiven und Lösungen." Ausgehend von dieser Feststellung setzt sich das Autorenduo in den fünf Teilen des Buchs mit den Schwerpunkten der Unternehmensführung in kompakter Form auseinander. Dabei werden Orientierung und Rezeption durch die klare Gliederung mit präzisen Kapiteln und Unterkapiteln erleichtert.

1. Grundlagen: Zuerst werden das Verständnis der Unternehmensführung aus traditioneller Sicht und der Wandel der Managementlehre referiert. Danach wird aufgezeigt, wie sich agile Managementmethoden vom klassischen Planungsansatz unterscheiden und weshalb es sinnvoll ist, unterschiedliche Strategieperspektiven wahrzunehmen und diese zu integrieren. Abschließend werden die Kunst der Führung sowie die Rahmenbedingungen für die Unternehmensführung im Abschnitt "Unternehmensverfassung und Corporate Governance" thematisiert. Dabei werden auch Eckpunkte der Agency- und der Treuhändertheorie kritisch hinterfragt.

2. Ziele: Nach einem Überblick über das Zielsystem der Unternehmung wird begründet, dass zum Zweck des Unternehmens in Marktwirtschaften nicht nur die Wertsteigerung, sondern auch die Mission, d.h. der Grundauftrag des Unternehmens für alle Stakeholder, einschließlich für die Gesellschaft, gehören. In diesem Kontext werden deshalb zuerst die klassischen wirtschaftlichen Zielgrößen für die Unternehmenssteuerung, etwa traditionelle, dynamische und kapitalmarktorientierte Finanzkennzahlen (u. a. EBIT, ROI, EVA und ROCE) sowie ergänzend hierzu die Balanced Scorecard und Strategy Map, behandelt. Dabei zeigt sich, dass der Shareholder- und der Stakeholder-Ansatz zwar zwei sich diametral gegenüberstehende Perspektiven beschreiben, Gewinn und Verantwortung sich jedoch nicht ausschließen müssen, sondern sich sogar ergänzen können. Auch die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility) kann mehr sein als eine nur lästige Selbstverpflichtung. Im abschließenden Kapitel "Strategie unter Unsicherheit" wird das oft vernachlässigte Thema der strategischen Risiken untersucht und das moderne integrierte Risikomanagement (ERM, GRC) vorgestellt.

3. Strategien: Strategien werden auf unterschiedlichen Ebenen entwickelt. Dementsprechend werden in diesem Teil Geschäftsstrategien, Unternehmensstrategien und Netzwerkstrategien näher dargelegt. Es zeigt sich erneut, dass Paradoxien und gegensätzliche Perspektiven die Strategielehre dominieren. Wettbewerbsvorteile werden auf der Geschäftsfeldebene durch ein entsprechendes Geschäftsmodell erzielt, aber es macht einen Unterschied, ob dieses aus einer Ressourcen- oder aber Marktperspektive heraus entwickelt wird. Bei der Konfiguration des Unternehmens stellt sich die Frage, ob das Unternehmen als Portfolio von autonomen Geschäftseinheiten geführt oder mit einem starken Kern von gemeinsamen Ressourcen, Aktivitäten und Produktangeboten integriert sein sollte. Des Weiteren geht es um die Alternativen, ob man evolutionär wachsen oder mit der Tradition brechen, ob man diversifizieren oder sich auf das Kerngeschäft konzentrieren sollte. Auf der Netzwerkebene schließlich kommt es darauf an, ob die Organisation durch distanzierte Marktbeziehungen charakterisiert ist oder beispielsweise eingebettet ist in partnerschaftliche Lieferantenbeziehungen, strategische Allianzen, interaktive Wertschöpfung und Crowdsourcing. Im Zusammenhang mit der Digitalisierung werden auf der Netzwerkebene auch Plattformstrategien, vor allem im Online-Handel, immer bedeutsamer und deshalb in einem eigenen Abschnitt untersucht. Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich mit typischen Problemen und Lösungsansätzen der Strategiebildung ("Strategy Formation") und den spezifischen Herausforderungen der Geschäftsmodell-Innovation.

4. Organisationsgestaltung: Die Unternehmensleistung hängt nicht nur von der Strategie ab, sondern auch von deren Umsetzung in der Organisation. Diese besteht im Kern aus der Struktur ("Anatomie"), den Prozessen ("Physiologie") und der Kultur ("Psychologie"). Im Hinblick auf die Organisationsstruktur kommt der multidivisionalen Struktur, die als Managementinnovation gilt, ein besonderer Stellenwert zu. Außerdem ist zu klären, ob im Konzern eher zentral oder dezentral geführt werden sollte. Danach wird die Rolle der Prozesse, Projekte, Menschen und der Organisationskultur näher untersucht. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Besonderheiten des Innovations-, Projekt- und Veränderungsmanagements. Kooperationen mit Startups (sog. "Explorer") sind eine interessante Option für etablierte Unternehmen (sog. "Exploiter"), um sich mit den Herausforderungen der Innovation und Digitalisierung erfolgreich auseinanderzusetzen. Dementsprechend werden auch mögliche Modelle einer derartigen Zusammenarbeit, etwa temporäre Aktivitäten, geteilte Infrastruktur, "Brutkästen" und Partnerschaften, angesprochen. Mit einem Kapitel über die digitale Transformation, vor allem zu den Strategien der Digitalisierung und Organisationsmodellen im digitalen Zeitalter, wird der vierte Teil abgerundet.

5. Internationale Strategie und Organisation: In diesem letzten Teil geht es insbesondere um folgende Fragestellungen bzw. Erkenntnisse:

  • wie Unternehmen Chancen und Risiken des internationalen Wachstums identifizieren können, welche Formen des Markteintritts möglich sind und wie die Risiken kontrolliert und Ergebnisse erzielt werden können;
  • dass die beiden strategischen Perspektiven globale Integration versus lokale Reaktionsfähigkeit die wichtigsten Orientierungen für die internationale Strategie und Organisation sind;
  • welche Organisation zu einer zugleich global als auch lokal orientierten Strategie passt;
  • was den Wandel im internationalen Kontext antreibt und welchen Stellenwert darüber hinaus Managementprozesse sowie Landeskulturen haben und welche Herausforderungen sich daraus für das internationale Personalmanagement ergeben.

Die neue Auflage hat den bislang verfolgten und überzeugenden methodisch-didaktischen Aufbau beibehalten, wurde jedoch gründlich überarbeitet, aktualisiert und mit neuen Abschnitten u. a. zur digitalen Transformation, agilen Organisation, Geschäftsmodell-Innovation und Zusammenarbeit zwischen Startups und etablierten Unternehmen erweitert. Inhaltlich bleibt das Lehrbuch nicht wenig anspruchsvoll, da vom Leser die Fähigkeit erwartet wird, unterschiedliche Perspektiven zur Unternehmensführung sowie daraus erwachsene Spannungen zu verstehen und Gegensätze bzw. Widersprüche nicht zu vernachlässigen. Dennoch ist es nicht abstrakt geschrieben, sondern bleibt durch viele aussagekräftige Praxisbeispiele, angefangen von Adidas, Alibaba, Amazon und Bosch bis hin zu POSpulse, Trumpf, Urban Sports und Zalando, aktuell, anschaulich und gut verständlich. Somit kann die Lektüre dieses modernen Standardwerks zur Unternehmensführung sowohl Studierenden und Lehrenden an Hochschulen und weiterbildenden Akademien als auch Praktikern in den Bereichen Unternehmensführung, Strategisches Management, Organisation und Personalmanagement bestens empfohlen werden.


von Bernd W. Müller-Hedrich - 24. Februar 2021
Unternehmensführung
Hans-Erich Müller
Martin Wrobel
Unternehmensführung

Strategie - Management - Praxis
De Gruyter Oldenbourg 2021
469 Seiten, broschiert
EAN 978-3110708424