Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit
Nach den ersten paar Seiten merkte ich, dass ich diese Geschichte im Fernsehen gesehen hatte. Ein Tatort? Ich googelte mich schlau, es war eine Verfilmung auf Arte gewesen, sie hatte mir gefallen, ich habe immer noch starke Bilder im Kopf. Und diese Bilder begleiten jetzt auch meine Lektüre.
Wieso das Buch lesen, wenn man doch schon den Film gesehen hat? Genauer: Wieso lese ich dieses Buch, wenn ich doch die Handlung schon kenne? Weil die Welt der geschriebenen Sprache und die Welt der sich bewegenden Bilder sehr verschieden voneinander sind. Dann aber auch, weil das Buch in München und die Verfilmung in Hamburg spielt (und das ist eben nicht das Gleiche). Und nicht zuletzt, weil vieles sich nun mal nicht zur Verfilmung eignet (das Innenleben der Protagonisten etwa).
Ich bin verblüfft, dass mich die Bilder aus der Verfilmung, die mir beim Lesen immer wieder durch den Kopf gehen, nicht stören, denn Lesen bedeutet für mich normalerweise, dass ich meine selber hergestellten Bilder-Fantasien denjenigen eines Regisseurs vorziehe. Und doch ist es nicht so, dass ich den Film mit dem Buch vergleiche. Dafür sind die beiden Versionen dann doch zu verschieden.
Doch worum geht es eigentlich? Um zwei Ermittler, Diller und den drogenabhängigen Kessel, der viel Unsinniges und vor allem Selbst-Destruktives tut. Unter anderem fährt er einen jungen Araber zu Tode. Eine türkisch-deutsche Staatsanwältin geht der Sache nach, Freunde des jungen Arabers erpressen Kessel. Diller hält loyal zu ihm und tut in der Folge auch viel Unsinniges und Selbst-Destruktives. Eine spannend erzählte Abwärtsspirale kommt in Gang. Besonders überzeugend ist die Schilderung der Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit der beiden Protagonisten; weniger stimmig und etwas gesucht schien mir hingegen, das Drogenmilieu der Arabs mit den Vorbereitungen auf eine internationale Sicherheitskonferenz, die möglicherweise das Ziel von Terroristen sein wird, zusammenzubringen.
Gelungen finde ich diesen Roman auch, weil er einen an einem Prozess, einer Entwicklung teilhaben lässt. Die Staatsanwältin Didem Osmanoglu präsentiert Diller ihre Vermutungen:
"Diller musste unwillkürlich lächeln, dabei war es purer Zorn, der in ihm aufstieg. Wie kam diese Frau dazu, über eine Geschichte zu urteilen, die sie einzig und allein aus einer zwanzig Jahre alten Akte kannte?"
Ich nickte zustimmend, fühlte mich bestätigt in meiner Sicht der Dinge: Was konnten Akten schon aussagen, was Historiker und Juristen schon wissen? Doch zwei Seiten weiter lese ich dann:
"Diller war fassungslos über diese Ansammlung von Halbwahrheiten und Mutmassungen. Wirklich bestürzt aber war er darüber, wie nahe Didem Osmanoglu dem kam, was wirklich geschehen war." So schreibt einer, der hellwach und intelligent seine auf Akten basierende Profession verteidigt. Der Autor ist Jurist.
Sein juristisches Wissen (und das meint: dass es gute Argumente für so ziemlich alles gibt) zeigt sich auch an anderen Orten und gereicht diesem Roman zum Vorteil, weil er ihn damit realistisch erscheinen lässt. Besonders schön fand ich wie die Szenerie anlässlich eines Haftprüfungstermins vor dem Strafjustizzentrum geschildert wird: "Seit dessen Verhaftung hatten sich wenig neue Fakten ergeben, die an die Öffentlichkeit weitergegeben werden durften. Die offiziellen Statements bestanden deshalb im Wesentlichen aus der variantenreich formulierten Bitte um Verständnis, dass mit Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen nicht mehr gesagt werden könne."
Intelligente Dialoge, reflektierte Auseinandersetzungen mit Gesellschafts- und Erziehungsfragen, interkulturelle Begegnungen, Leiden an der Sucht, Wissenswertes über die kenianische Insel Lamu ... und all das spannend erzählt, das ist "Unter Feinden": gute und lehrreiche Unterhaltung.
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