Verkettungen in Japan
Osaka, 1973. Der Pfandleier Kirihara wird ermordet in einem verlassenen Gebäude aufgefunden. Kurz zuvor hat er auf der Bank eine Million Yen abgehoben. Und seine Geliebte besucht. Doch war sie wirklich seine Geliebte, diese Frau, die seit einem halben Jahr in einer festen Beziehung ist? Ihr Freund gehört jedenfalls schon bald zu den Verdächtigen, doch dann stirbt er bei einem Autounfall und sie an einer Gasvergiftung – ihre Tochter Yukiho kommt zu Verwandten und führt ein Doppelleben, von dem ihre Adoptivmutter jedoch nichts weiss.
Jahre später. Ryo, der Sohn des Opfers und ein skrupelloser Geschäftemacher, vermittelt gutaussehende Schulkollegen an ältere Damen. Eriko, Yukihos Freundin, wird überfallen, mit Chloroform betäubt und bewusstlos auf der Ladefläche eines Lastwagens gefunden. Es ist eine vielschichtige Geschichte, die Keigo Higashino erzählt, wobei er auch immer wieder von der Vergangenheit in die Gegenwart wechselt, was die Lektüre gelegentlich etwas verwirrend macht. Der rote Faden ist die mysteriöse Verbindung von Ryo und Yukiho.
So recht eigentlich stösst man in "Unter der Mitternachtssonne" nicht nur auf eine, sondern auf ganz viele Geschichten. Ganz besonders gelungen ist dabei die Liebesgeschichte von Kazunari und Eriko (und die anderen berührenden Liebesgeschichten), die mit dem Überfall auf Eriko eine ganz unerwartete Wendung nimmt. Und dann unvermittelt wieder bei dem Schlitzohr Ryo Kirihara landet, der mittlerweile zusammen mit einem Kollegen und einer Kollegin aktiv beim Fälschen von Kreditkarten und bei Computerbetrügereien zugange ist. Erst nach und nach merkt man, dass die verschiedenen Geschichten alle miteinander zusammenhängen – ein Meisterwerk!
"Unter der Mitternachtssonne" gibt auch vielfältig Auskunft über japanische Verhältnisse, Sitten und Gebräuche. Die Leute begegnen einander ausgesprochen höflich, scheinen dauernd Angst zu haben, anderen zur Last zu fallen, entschuldigen sich ständig. Zudem erfährt man, dass es Universitäten für Mädchen gibt, erhält Einblicke in Klassenunterschiede ("Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass Leute aus der Oberschicht in der Regel nicht zu spät kamen.") und Aufklärungen darüber, wie vielfältig die Yakuza in der Geschäftswelt mitmischen.
Diese Japan-Aufklärungen lesen sich besonders anregend und schon allein derentwegen lohnt die Lektüre dieses Thrillers, der nicht zuletzt auch wegen der höchst ansprechenden Buchgestaltung – vom Umschlag zum Format zum Satzspiegel – überzeugt.
"The Times" hat Keigo Higashino als "Der japanische Stieg Larsson" bezeichnet und mehr daneben kann man so recht eigentlich gar nicht liegen, denn Stieg Larsson schrieb spannungsgeladene Politthriller und ist damit meilenweit von "Unter der Mitternachtssonne" entfernt, bei dem Kleinigkeiten Aufschlüsse über das Vorgefallene und detaillierte Befragungen Hinweise auf mögliche Täter geben. Was die beiden hingegen verbindet, ist, dass beide atemberaubend spannend sind und einen unwiderstehlichen Sog entwickeln, dem man sich kaum entziehen kann.
"Unter der Mitternachtssonne" ist ein cleverer und höchst differenzierter Thriller darüber, dass nichts im Leben sicher und alles miteinander verbunden ist, reich an überraschenden Wendungen und wunderbar unterhaltsam, in dem man auch so zum Schmunzeln einladende Sätze wie diesen findet: "Die Vorlesung über Hochspannung war zum Einschlafen."
Ein glänzender und überaus eindrücklicher Thriller voller rätselhafter und faszinierender Liebes- und Beziehungsgeschichten. Keigo Higashino ist für mich eine ganz wunderbare Entdeckung!
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