Ungarns zweites Jahrhunderttrauma
Ungarn: Da denken wir an Flüchtlinge. Sie kommen aus Syrien, werden an den EU-Außengrenzen aufgefangen und möglichst rasch nach Westeuropa weitergeleitet. Solche Flüchtlingswellen haben Tradition. Doch waren es früher die Ungarn selbst, die flohen: vor den Türken nach der verlorenen Schlacht von Mohács 1526; vor den Russen nach deren Einfall - im Auftrag Österreichs - im Zuge der verlorenen Revolution von 1848/49; vor Rumänen und Tschechoslowaken nach dem Scheitern der Räterepublik 1919 sowie dem Vertrag von Trianon ein Jahr darauf; wieder vor den Russen nach dem niedergeschlagenen Volksaufstand von 1956.
Letzterer jährt sich 2016 zum 60. Mal. Für den Tyrolia Verlag ist das ein Anlass, die Ereignisse noch einmal in einem dokumentarischen Bildband Revue passieren zu lassen. Die Aufnahmen stammen vom früheren Magnum-Fotograf Erich Lessing, der einführende Text vom Innsbrucker Geschichtsprofessor Michael Gehler.
Zunächst wird der Leser auf den notwendigen Wissensstand gebracht. Tiefe Einblicke in die Politik der Vernunft (ein seinerzeit wie heute gern verwendeter Euphemismus) gewähren die Aussagen der damaligen österreichischen Botschafter in den Warschauer Pakt-Staaten: Warum griff der Westen nicht ein? Warum beließen es die USA bei allgemeiner Kriegsrhetorik, statt - wie später bei der Kuba-Krise - gezielten Druck auf die Sowjetunion auszuüben. Warum verweigerte das renitente, nicht unter Moskaus Einfluss stehende Jugoslawien Ungarn die Solidarität? Warum schwieg Österreich? Sehr verkürzt dargestellt: Großbritannien und Frankreich waren gerade damit beschäftigt, die Suezkanalkrise zu lösen und Ägypten in die Schranken zu weisen; die Eisenhower-Dulles-Administration interessierte Ungarn, anders als das vor der Haustür liegende Kuba, einen Scheißdreck; der blockfreie Renegat Josip Broz Tito konnte bei Nikita Chruschtschow Pluspunkte sammeln, und Österreich, gerade erst neutral und besatzungsfrei geworden, wollte lieber nicht ausprobieren, was alles passieren kann, wenn sich das große Amerika einen Scheißdreck für einen interessiert.
Die weitere Geschichte erzählen die Bilder. Alle sind in Schwarzweiß gehalten, was Authentizität und Ausdruckskraft erhöht. Die Zeitreise beginnt im Jahr 1956 vor dem Aufstand und zeigt ein Land zwischen kommunistischer Folklore und letzten Zuckungen eines abgewirtschafteten stalinistischen Systems, mit selbstbewussten Industriearbeitern und kleinen bürgerlichen Fluchten im Alltag.
Und dann beginnt, urplötzlich, die Rebellion. Erst richtig befeuert durch die Bemühungen des Großen Bruders, alles schön auf Sparflamme zu halten, eskaliert sie jeden Tag weiter zu einem nie für möglich gehaltenen Ausmaß, zu einem veritablen Volksaufstand. Es geht richtig zur Sache in jenen Novembertagen des Jahres 1956. Die Aufständischen erbeuten Karabiner, Kalaschnikows, Schützenpanzer und schwere T 34-Tanks - und setzen diese Waffen gegen russische Invasoren und schießwütige einheimische Sicherheitskräfte auch ein. Tatsächlich zieht sich die Rote Armee ein Stück weit zurück. Imre Nagy, der zuvor von den Stalinisten geschasste, inzwischen rehabilitierte und wieder ins Amt gesetzte Ministerpräsident, geht nach anfänglichem Zögern aufs Ganze. Er stellt sich bedingungslos hinter die Aufständischen, fordert den kompletten Abzug der Sowjets aus Ungarn und erklärt etwas noch nie Dagewesenes: den Austritt (s)eines Landes aus dem Warschauer Pakt. Letzteres, vermutet Ko-Autor Gehler und bestätigen die Botschafterberichte, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Rote Armee kam zurück und machte jetzt Ernst.
10.000 Ungarn ließen ihr Leben, aber auch 700 Sowjetsoldaten kamen um. Manche Straßen, davon zeugen die Bilder, sahen aus wie im Krieg. Irritierend sind Aufnahmen, auf denen interessiert zuschauende Passanten direkt neben schießenden Widerständlern zu sehen sind. Überhaupt scheint jeder irgendwie mitmachen zu wollen: Budapester Anrainer winken einen erbeuteten T 34 ein, um in ihrem Hauseingang zu parken; Eisenbahnwaggons dienen als Barrikaden; Kämpfer werden verpflegt und ermutigt. Nachher geht alles in Trümmer. Die toten Rotarmisten liegen auf der Straße, mit Kalk bedeckt, um Seuchen vorzubeugen; tote Ungarn werden abtransportiert, um sie später anständig zu begraben. Neben dem Schrecken geben die Fotografien auch den Hass wieder. Vor allem Geheimpolizisten werden gelyncht, für den Historiker Gehler ein Beleg unter mehreren, dass der Aufstand spontaner Natur war und nicht, wie in Moskau behauptet, vom Westen gelenkt.
Der ungarische Volksaufstand, auch das zeigen die Bilder, besaß eine ganz andere Dimension als die ebenfalls spontane Auflehnung am 17. Juni drei Jahre zuvor in Ostberlin. Mit dem Resultat, dass sich die Ungarn zum wiederholten Mal nach dem Vertrag von Trianon, als ihr Staat auf ein Drittel reduziert wurde, vom Westen verraten fühlte. Trianon 1919 und der Aufstand 1956 sind mit eine Erklärung für das egoistische, oft bockige, nicht als EU-kompetent begriffene Verhalten einer Regierung Orbán, die sich von Resteuropa in die Ecke gestellt fühlt und die Rolle des renitenten Eckenstehers auch gerne annimmt. Dass das gegenseitige Missverstehen so groß vielleicht doch nicht ist und Ungarn, wie schon 1956, über eine funktionierende Zivilgesellschaft verfügt, die das Verhalten ihrer Regierung sehr wohl kritisch hinterfragt, legen einige Bilder im vorletzten Abschnitt des Bandes nahe. Sie entstanden zur Wendezeit, als Ungarn wieder einmal Ausgangspunkt für Flüchtlinge wurde, diesmal für Ostdeutsche. Lessing und Gehler taten gut daran, diese hinzuzufügen und auf Ungarns historischen Beitrag noch einmal hinzuweisen.
Der allerletzte Teil ist den überlebenden Widerstandskämpfern gewidmet. Er zeigt den Straßenkämpfer Gergely Pongrácz, den oppositionellen Schriftsteller und später ersten postkommunistischen Präsidenten Árpád Göncz, die Enkelin von Imre Nagy - Katalin Jánosi ist auch am Anfang des Buches abgebildet, als Fünfjährige, gemeinsam mit dem Großvater - oder Judit Gyenes, die Witwe des zusammen mit Nagy 1958 hingerichteten militärischen Anführer des Aufstands, Pál Maléter. Sie sind in Ungarn geblieben oder haben nach Ungarn zurückgefunden. Verbittert schaut niemand von ihnen drein.
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