Türkei: Reif für die Europäische Union?
Ausgelöst durch die Frage nach der Europareife der Türkei, eigentlich aber auf der Suche nach den Geheimnissen und Tiefen der türkischen Seele unternimmt der Journalist Christian Schüle eine Reise quer durch Anatolien; er überlässt sich dabei weitgehend dem Zufall. Mit den Menschen, denen er dabei begegnet, verbringt der Autor oft mehrere Tage und gerät in unerwartet angenehme oder beängstigende Situationen.
Der elegante, pensionierte Gymnasiallehrer Herr Yurttas aus Antakya betrachtet den Stolz der Türken auf sich selbst, ihre Nation, ihre Republik und das, was sie aus den Trümmern des Osmanischen Reiches aufgebaut hatten, als Quelle ihrer Identität. Und dieser Kern der türkischen Identität soll sich im Laufe der Reflexionen des Autors als problematische Seite erweisen.
Schüle begegnet einer unabhängigen, jungen Frau in einem kappadokischen Dorf oder einem radikal-islamischen Fundamentalisten in Konya. Beiden tritt er gleich unvoreingenommen gegenüber, gewinnt ihr Vertrauen und entlockt ihnen ihre Geheimnisse. Der Islamist versucht über Internet-Chats, russische Frauen zum "wahren Islam" zu bekehren und schenkt Schüle zum Abschied seine Gebetskette, die dieser gerührt annimmt.
Nicht nur durch den Kurden Ramazan aus dem ostanatolischen, elenden Siverek, auch von einem Angler auf der Istanbuler Galata-Brücke oder dem feinen Herrn Yurttas aus Antakya hört der Autor von national-religiösen, paranoiden Ängsten: Die Juden beherrschten die amerikanische Regierung, die überall Krieg führe, die Juden eroberten den Nahen Osten und begännen, den Südosten der Türkei aufzukaufen. Die Juden "seien die eigentlichen Machthaber im Internationalen Währungsfonds", dessen Zinspolitik die Türkei ruiniere. "Die Juden von Süden, die Armenier von Osten, die Griechen von Westen - alle wollten den Türken ihr Land rauben." - Einen türkischen "Nationalkomplex" also entdeckt Schüle. (S. 201) Der Kurde Ramazan ließ sich überdies durch nichts von der Überzeugung abbringen, die Türkei könne nur in die Europäische Union gelangen, wenn die Juden dies wollten. Die ganze Weltpolitik handle von den Juden; und was Ramazan im Fernsehen sah - und er und seine Freunde sahen jeden Tag stundenlang fern - schien dies zu bestätigen: Denn man sah täglich bewaffnete israelische Soldaten, die wehrlose Palästinenser erschossen. Und tote Zivilisten im Irak sowie ausführlich widergegebene Videos von "Widerstandskämpfern" mit Aufrufen, die Amerikaner von dort zu vertreiben, wären hier anzufügen.
Im türkischen Südosten wird Schüles Reise zu einem gefährlichen Abenteuer. Misstrauisch von Spitzeln des Geheimdienstes beobachtet und schließlich verfolgt, denn inzwischen ist bekannt geworden, dass der Journalist heimlich und ohne staatliche Erlaubnis das Kurdengebiet bereist, "flieht" er schließlich mit dem Flugzeug nach Trabzon am Schwarzen Meer.
Nachdem in Kappadokien und im Südosten die Welt stehen geblieben und kein Ende einer patriarchalischen Gesellschaft in Sicht schien, welche die Frauen aus dem öffentlichen Raum fern hält, was auch die Jungen fortzuführen sich vorgenommen haben, findet der Autor in Kars nahe der immer noch geschlossenen Grenze zu Armenien und am Schwarzen Meer eine weltoffene, kosmopolitische Türkei vor, die man höchstens in Istanbul vermutet hätte. In Trabzon "war die Cliquenhaftigkeit der Männer [...] weitaus besser zu ertragen als in Kappadokien, Urfa oder Antakya." (S. 271) Ein verblüffender Grund hierfür ist das einer Kulturrevolution gleichkommende Eindringen russischer Prostituierter seit der Öffnung des eisernen Vorhanges, der "Nataschas". "Die türkischen Frauen verabscheuten die Frauen aus dem Osten, weil die ihnen die Männer raubten. Die Nataschas hatten einen immensen Vorteil: Sie waren von keiner moralischen Selbstverpflichtung in der Zurschaustellung weiblicher Reize gehindert [...]. Die türkischen Männer hingegen hatten zum ersten Mal das Gefühl, frei wählen und bestimmen zu können, wen sie liebten, und sie liebten, wen sie begehrten, da das Begehren in ihrem Leben aufgrund religiöser Erziehung bislang keine allzu große Rolle spielen durfte." (S. 276f) Die Nataschas waren im Laufe der Jahre von Prostituierten zu "Begleiterinnen", "freien Unternehmerinnen" avanciert, die sich von vier oder fünf Männern, die sie selbst auswählten, unterhalten ließen. Um ihre Männer zu behalten, beginnen die Frauen aus Trabzon nun, sich elegant zu kleiden und selbstbewusster aufzutreten.
Am Ende seiner Reise hat Christian Schüle sich der türkischen Seele angenähert und beschreibt den "einzigartigen Charme der Türkei" damit, dass sie "den Begriff des Fremden" nicht kenne (S. 294). Im anatolischen Erbe sei, "viel stärker als die Wahrnehmung von Unterschieden, das Erkennen von Ähnlichkeiten verankert" (S. 295): "Das westliche Denken zieht das trennende Oder vor, das östliche das verbindende Und. Die westliche Kultur [...] vollzieht sich in Gegensätzen und ihren Auflösungen." Die westliche Ethik setzt auf individuelle Verantwortung, die östliche auf die bindende Sitte.
Am Ende dieses Buches, das von tiefem Interesse an der türkischen Kultur und von Einfühlungsvermögen für die Menschen geprägt ist, steht jedoch eine ernüchternde Bilanz des Autors hinsichtlich europäischer Perspektiven der Türkei: "Ich glaube weder, dass die Türkei in die Europäische Union soll, noch dass sie es schafft." Und: "Solange die Türkei den Wert jedes Einzelnen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und religiöser Ausrichtung, nicht selbstverständlich respektiert, ist sie nicht europareif." (S. 296) Zu einem "Zugeständnis an die Hoffnung" (S. 297) ist Schüle nach dieser mehrwöchigen Türkeireise abseits der großen Touristengebiete nicht mehr bereit. Er hält es gar für "unverantwortlich, die Türkei in die Europäische Union zu locken" (S. 298). Aus zwei Gründen: "Zum einen der veritable, aggressive Nationalismus samt seinem beinah ärgerlichen Atatürk-Kult, der dörferweise Züge einer realkommunistischen Diktatorenverehrung hatte. Zum anderen die durch den Koran gedeckte Abwertung der Frau und die Entweiblichung der Alltagskultur." Und gerade in der jungen, männlichen Generation findet der Autor keine Hoffnung auf einen Abschied von diesen nationalistischen und chauvinistischen Haltungen, weil sie keinen anderen Halt zur Identitätsbildung finden können als den Stolz auf ihr Türkentum und ihre maskuline Überlegenheit gegenüber den Frauen. "Der aggressiver werdende Kampf zwischen Allah und Atatürk, zwischen religiöser Fundamentalisierung und nationalistischer Staatsvergöttlichung, passt nicht mehr auf die Fundamente der europäischen Zivilisation und ihres Humanismus" (S. 298).
Diese Bilanz ist nicht nur deprimierend, sondern wohl auch zu einseitig. Europa vergisst allzu gerne, wie knapp die Türkei nach dem Ersten Weltkrieg einer Zerstörung ihrer Eigenstaatlichkeit und der Kolonisierung durch europäische Staaten entgangen ist. Aus diesem nationalen Trauma rühren auch heute noch tief sitzende Ängste vor einem Zerfall der Türkei, wenn es z.B. um die Frage der Minderheiten geht. Das in der Geschichte verwurzelte Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Europa führt bisweilen zu Äußerung bizarrer politischer Meinungen, und dies auch im staatlichen türkischen Auslandssender TRT-INT - hier wurde Ende des Jahres 2006, vermutlich im Zusammenhang mit dem desaströs ausgefallenen EU-Fortschrittsbericht, eine unglaubliche Hetze gegen Europa betrieben; doch diese Meinungen vergehen so schnell wie sie kommen und resultieren auch aus dem Eindruck, dass die Stimme der Türkei sich in Europa kein Gehör verschaffen könne. Die Türkei ist zerrissen zwischen europäischen Hoffnungen und einer ängstlichen Abgrenzung gegenüber dem Westen. Doch die Europäische Union ist kein monolithischer Block: Hier ist Platz für Skandinavien genauso wie für das katholische Polen, Rumänien und Bulgarien oder einige südliche Mittelmeer-Regionen, die sich von der Westtürkei kaum unterscheiden. Warum also sollte die Türkei den Weg nicht schaffen?
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