Vergangenheit und Gegenwart der Türkei
Dieses Buch ist eine kompakte Einführung in Geschichte, Politik und Kultur der Türkei. Es nimmt Bezug auf aktuelle Problematiken wie die Re-Islamisierungs-Debatte oder den Streit um die Vertreibung des größten Teils der armenischen Bevölkerung mit etwa einer Million Todesopfern gegen Ende des Osmanischen Reiches. Ziel des Autors ist es, ein besseres Verständnis der Türkei zu befördern. Dabei sind grundlegende Kenntnisse über die Geschichte Anatoliens und vor allem des Osmanischen Reiches und der laizistischen Reformen des 20. Jahrhunderts hilfreich.
Sicher ist es nicht einfach, Vergangenheit und Gegenwart dieses großen Landes auf gut 200 Seiten zusammenzufassen; besonders hinsichtlich des osmanischen Reiches dürften in den Köpfen der meisten Mitteleuropäer mehr Klischees als Kenntnisse existieren. Doch ob dieses Buch dagegen ankommt, wie sich der Autor dies wünscht, erscheint fraglich. Dazu ist seine Darlegung der osmanischen Geschichte doch zu knapp und etwas oberflächlich. Erst das 20. Jahrhundert und hier vor allem die Zeit Attatürks, wird sehr ausführlich besprochen. Das Kapitel "Eine bunte Welt" dagegen, das besser in einen Reiseführer passte, hätte man sich zugunsten einer Vertiefung des historisch-politischen Teils schenken können.
Der Aufstieg des Osmanischen Reiches mit seinen Eroberungszügen vom Balkan bis zur arabischen Halbinsel wird als Erfolgsgeschichte geschrieben. Doch mit dem Stocken der kriegerischen Erfolge begann der innere Verfall. Die Ursachen dieser Wende und der langen Stagnationsphase bis zum Untergang des Reiches aber, der heute noch als nationales Trauma der Türken spürbar ist, werden dem Leser nicht wirklich nachvollziehbar und plastisch. Auch die Lebensbedingungen der Menschen in Anatolien und den arabischen oder europäischen Gebieten werden nur am Rande gestreift. Der Autor begründet den Niedergang des Osmanischen Reiches mit militärischer Schwäche, Korruption, wirtschaftlichem Egoismus der großen europäischen Staaten und russischen Angriffskriegen. Die Verselbständigung Ägyptens wird als "eigenes regionalpolitisches Spiel" (S. 81) abgetan. Die Unabhängigkeitsbewegungen in den europäischen Teilen des Osmanischen Reiches, die wie überall sonst in Europa, auch auf dem Balkan und in Griechenland nicht dauerhaft unterdrückbar gewesen wären, ignoriert der Autor. Die Zeit der "Vielvölkerstaaten" ging zu Ende, und die repressive Politik der Osmanen auf dem Balkan beschleunigte dies noch. Auch dass die Jungtürkische Regierung durch die Einführung des Türkischen als Amtssprache den Rückhalt in den arabischen Gebieten verlor, kommt nicht zur Sprache.
Die Darstellungen in den einzelnen Kapiteln zu heutigen Problemen und Konflikten dagegen sind differenziert und berücksichtigen bei kontroversen Themen unterschiedliche Sichten angemessen. Dies ist dem Autor beispielsweise in dem Kapitel zum "Thema Armenien" (S. 177ff) gut gelungen, wo er auf den Einfluss Russlands auf den armenischen Separatismus und die Gräueltaten der von Russland finanzierten armenischen Guerillaorganisationen der Hundschaken und Daschnaken hinweist, ohne aber in die derzeitige offizielle türkische Propaganda einzustimmen oder die an der armenischen Zivilbevölkerung begangenen Verbrechen zu leugnen. Ebenso ausgewogen ist das Kapitel zu den schwierigen türkisch-griechischen Beziehungen oder zum Kurden-Problem. Beim Thema Zypern wirbt der Autor für Verständnis für den türkischen Boykott Südzyperns. Vielleicht wird es sich tatsächlich als Fehler erweisen, Zypern vor einer Lösung seines Teilungs-Problems in die Europäische Union aufgenommen zu haben. Denn Regierungschef Papdopoulos hat bereits angekündigt, nun die EU als Trumpf einsetzen zu wollen und in allen die Türkei betreffenden Fragen sein Veto auszuüben.
Belgin zählt zu den Befürwortern eines EU-Beitritts der Türkei. Hierzu fasst er nochmals die aus der deutschen Presse bekannten Argumente der Gegner bzw. Unterstützer zusammen. Vor inzwischen mehr als 40 Jahren stellte die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft der Türkei einen Beitritt in Aussicht. Das ausführliche Zitat aus der Rede des Kommissionspräsidenten Walter Hallstein von 1963 wirkt allerdings angesichts des folgenden Jahrzehnts der Radikalisierung, der starken islamistischen Bewegung und der politischen und wirtschaftlichen Krisen, welche das Land erschütterten und zur mehrmaligen Intervention des Militärs führten, reichlich optimistisch. Ebenso wird deutlich, wie viel sich seitdem in Europa verändert hat und dass man damals die weitere Entwicklung der Türkei vielleicht zu eindimensional als zwangsläufig in Richtung Europa verlaufend ansah. Die Suche der Türkei nach ihrer Identität ist noch nicht abgeschlossen.
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