Die feine Gesellschaft und ihre Abgründe
Klatsch und Tratsch findet in jedem Medium seinen Platz. In den Zeitungen dieser Welt - je nach Anspruch - entweder ganz vorn oder ganz hinten, das Fernsehen unterbricht damit im Vorabendprogramm seine Talkshow-Dauerberieselung und die ach so modernen Online-Medien können erst gar nicht ohne. Der schier grenzenlose Hype nach Sensationellem und Skandalösem prägt die Medienlandschaft heute genauso wie vor Jahrzehnten. Während dem Auge der aktuellen Presse kaum ein Fehltritt entgeht, waren die Sensationshungrigen früherer Jahre auf Enthüllungen und Geständnisse von Insidern angewiesen.
Kaum ein Enthüllungsbuch erschütterte den Mikrokosmos der High Society so sehr, wie Truman Capote’s Romanfragment "Erhörte Gebete". Das in der Zürcher Werkausgabe neu übersetzte und soeben erschienene unvollendete Buch ist Capotes Abrechnung mit der globalen Schickeria, die sich seit Erscheinen seines Erstlingsromans "Andere Stimmen, andere Räume" um das "literarische Wunderkind" geschart hat, um im Licht seines Ruhmes auch etwas heller zu strahlen.
Mit Genugtuung und giftiger Schadenfreude öffnet Capote dem Leser die Türen in die Parallelwelt der Reichen und Schönen und deckt deren scheinheilige Oberflächlichkeit untereinander und gegenüber der Welt gnadenlos auf. Kaum einer der westeuropäischen und amerikanischen Stars und Sternchen, der Schönen und Reichen, der Wichtigtuer und Wichtigmacher, der lokalen und internationalen Prominenzen aus Wirtschaft und Politik seiner Zeit finden keinen unrühmlichen Eingang in seine Enthüllungen. Ob die Rothschilds oder die Kennedys, die Lindberghs oder die Thyssens, der iranische Schah, Peggy Guggenheim oder Jerome D. Salinger, um nur einige zu nennen, deren Peinlichkeiten und Geheimnisse Capote ausplaudert. Entsprechend geschockt und empört reagierte sein ihm bis dato so wohlgesinntes Umfeld nach den Veröffentlichungen einzelner Kapitel im amerikanischen Esquire-Magazin. Ein Großteil seiner sogenannten Freunde distanzierte sich nach seiner Offenbarung von ihm.
Allerdings führte Capote diese Kapitel nie zusammen. Ein geschlossener Roman sollte ihm mit seinem Projekt eines modernen Romans nach Proust’schem Muster nicht gelingen. Er scheiterte an den eigenen Ansprüchen. Er wollte seine Erfahrungen in der Upperclass in eine fiktionale Erzählung einbinden und so diese Welt des Seins und Scheins enttarnen. Er war wohl auf der Suche nach seiner persönlichen verlorenen Zeit und hat sich dabei verirrt. Und dennoch scheint ihn gerade dieses Suchen "nach unverdorbenen Ungeheuern", wie er es nannte, dazu angetrieben haben, diese gnadenlosen und geradezu unerhörten Textfragmente zu entwerfen, die den erhaltenen Teil von "Erhörte Gebete" darstellen.
In drei von ursprünglich sieben geplanten Kapiteln legt der fiktive Autobiograf P. B. Jones, ein Bruder im Geiste Truman Capote’s, Rechenschaft ab. Er beschreibt seinen zweifelhaften Aufstieg und sein Dasein in einer Welt der unglückseligen Glückspilze, die verzweifelt versuchen, ihre innere Einsamkeit und Verlassenheit in sich überbordendem Materialismus und ausschweifender Sexualität zu ertränken. Jones verdankt seine Existenz inmitten der globalen Schickeria weniger seinem künstlerischen Talent als Schriftsteller, als vielmehr dem gezielten Einsatz seiner Lenden. Nicht selten sind die beschriebenen Fehltritte der denunzierten Berühmtheiten (homo-)erotische Abenteuer mit dem fiktiven Autor selbst. Jones hat es verstanden, das Spiel der Reichen und Schönen zu seinen Gunsten mitzuspielen - und, so ehrlich muss man sein, er scheint sich zuweilen nicht minder wohl dabei gefühlt zu haben.
Capote enthüllt hier jedoch nicht nur den Klatsch und Tratsch der feinen Gesellschaft, sondern deckt deren Oberflächlichkeiten und Falschheiten auf. Dass er damit Bekannte und sogar Freunde diskreditiert und öffentlich bloßstellt, ist ihm zwar bewusst, macht ihm aber nichts aus. Als selbstbewussten "Kaltblüter" beschreibt er sein Pendant P. B. Jones, als jemanden, der seinen Grips nutzt, um sich durchs Leben zu schlagen. Zu den Tumulten, die seine Enthüllungen verursachten, sagte er nur: "Was haben diese Leute denn erwartet? Ich bin Schriftsteller und verwende alles. Haben die etwa geglaubt, ich sei nur zu ihrer Unterhaltung da?"
Nun, zumindest den Leser unterhält Capote mit seinen Geschichten und Erzählungen, Berichten und Geständnissen prächtig. Und dabei sind es weniger die Enthüllungen, die begeistern, sondern vielmehr die Art und Weise, wie er sie uns präsentiert. Perfekt inszeniert er die affektierte Sprache der gehobenen Klasse und zitiert so ununterbrochen eine Gesellschaft, in der ein ausschweifendes Sexualleben und belangloses Getratsche zum guten Ton gehören und eigentlich schon alles sind, was zu ihr zu sagen wäre. Kurzum, Capote beschreibt hier die Hautevolee als ein penetrantes und lästiges Völkchen, dessen tägliche Erfüllung darin besteht, sich "zu betrinken und daneben zu benehmen" und das die Langeweile des dahinplätschernden Tages rauschhaft "in goldene Splitter zertrümmert".
"Erhörte Gebete" ist ein wunderbar amüsantes, aber auch ein scharfzüngiges und bissiges Geständnis, mit dem sich ein Umschmeichelter der ihn umgebenden Wohlgefälligkeit entledigt. Während der langen Auseinandersetzung mit den einzelnen Kapiteln hat sich Capote jedoch nicht nur von der offensichtlich so verhassten Noblesse, sondern auch von sich selbst entfernt. All seine Schriftstücke sei er durchgegangen und zu dem Schluss gekommen, dass er seinen Stil ändern müsse. Denn: Kein einziges Mal sei er der Wucht eines Themas wirklich gerecht geworden. "Ein Schriftsteller sollte die ganze Farbpalette einsetzen, sämtliche Schreibweisen vermischen dürfen, womöglich sogar beidhändig." Offensichtlich war es sein Ziel, dies in "Erhörte Gebete umzusetzen. Er kam mit dem Roman jedoch nicht voran und "Schuldgefühle und Panikattacken" müssen ihn geplagt haben, so der Erstverleger Joseph M. Fox im Nachwort. Ob letztlich die Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch und Ergebnis oder doch die privat-öffentlichen Tumulte um ihn herum dafür verantwortlich waren, dass dieses Buch nur als Fragment vorliegt, ist letztlich unerheblich. Ebenso unbedeutend ist, ob Capote die fehlenden Kapitel in Anfällen von Selbstzweifel zerstört hat, ob sie in irgendeinem Schließfach liegen oder ob er sie niemals geschrieben hat. Allein ihr Fehlen ist ein Jammer.
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