Miteinander reden
1966 fragte der Philosoph Karl Jaspers sorgenvoll: Wohin treibt die Bundesrepublik? – Auch heute wird skeptisch über Deutschland nachgedacht. Fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erleben die meisten freiheitlich-demokratischen Staaten in Europa eine Bewährungsprobe. Wo stehen wir heute? Welche Aufgaben, welche Herausforderungen erwarten uns? Alt-Bundespräsident Joachim Gauck wirbt für politischen Realismus und äußert sich beherzt zu einigen brennenden Fragen der Zeit.
Ironischerweise wird die Regierung, die sich auf die parlamentarische Mehrheit der Unionsparteien und der SPD stützt, noch immer als "Große Koalition" bezeichnet. Wie groß aber ist wirklich noch diese Konstellation? Deutschland erlebt – mit Verzögerung gegenüber Frankreich oder Italien – eine gravierende Veränderung der politischen Landschaft. Ein Bewusstseinswandel scheint stattzufinden. Populistische Bewegungen befinden sich europa- und weltweit auf dem Vormarsch. Bemerkenswert ist, wie nüchtern Joachim Gauck den Wahlsieg des US-Präsidenten Donald Trump analysiert: "Die Globalisten hatten gar nicht gespürt, wie ihr Streben nach Selbstentfaltung, nach einem immer individueller zugeschnittenen Lebensentwurf, nach immer höher entwickelten Ansprüchen an Essen, Reisen, beim Designen von Wohnungen und nach Aufsprengung traditioneller Geschlechterrollen bei vielen Somewheres auf Befremden, Unverständnis und Widerstand stieß. Die Sesshaften wollten und wollen nicht immer mehr Diversität, nicht immer weitere Differenzierungen von sexuellen Orientierungen und immer mehr migrantische Communitys; sie wollen an herkömmlichen Traditionen, an Familie und konservativen Werten weitgehend festhalten, sie wollen auch der Arbeit nicht in fremde Städte und Staaten folgen, sondern in der Heimat bleiben." Zwischen Europa und Amerika bestehen manchmal mehr Gemeinsamkeiten, als wir denken. Gauck sieht eine Verbindung auch in einer verbreiteten Wahrnehmungsschwäche: "Weil die einen zu viel Toleranz einforderten, zumal in Bereichen, die für den Durchschnittsbürger keine prioritäre Bedeutung haben, sind autoritäre und intolerante Tendenzen bei anderen geradezu aktiviert worden. Jene offene, multikulturelle Welt, die die Demokratie attraktiv erscheinen ließ und lässt, hat bei anderen Ängste und das Gefühl der Bedrohung ausgelöst. … Wenn die Progressiven zu weit vorauseilen, erst recht, wenn sie die Interessen relevanter Mehrheiten gering schätzen, aktivieren sie die Reaktion. Demokratie aber lebt von der Verständigung und der Toleranz unter den Verschiedenen."
Toleranz ist eine schwer errungen, aber unverzichtbar, um miteinander in aller Verschiedenheit respektvoll leben zu können. Joachim Gauck wirbt für eine kämpferische Form, also nicht für ein bloßes Aushalten und Ertragen von abweichenden Positionen und Meinungen, sondern für begründeten Widerspruch und auch Freude an der Kontroverse. Das "Hauptübel unserer Debattenkultur" sei, dass allzu viele sich "in ihrer Blase eingerichtet" hätten, so "dass es nur selten zu wirklichen Konfrontationen kommt". Er fordert den Mut zur Auseinandersetzung. Ethische Argumente seien wichtig, aber wer auf "Sachargumente" verzichte, der verkürze das "Engagement" quasi auf die besten moralischen Absichten, auf einen "einseitig moralisierenden und gleichzeitig herablassenden Antirassismus, Antifaschismus, Antipopulismus". Die "neurotische Feindschaft gegen das Eigene" lehnt Gauck entschieden ab: "Es wäre ein bitterer, später Sieg des Nationalsozialismus, wenn er einen aufgeklärten Patriotismus auf Dauer verhindern könnte." Auch die Treue zum Verfassungsstaat sei etwas Gutes, das "Bedürfnis nach Beheimatung" mitnichten ein "suspekter Anachronismus". Ob es aber wirklich eine neue Entwicklung ist, dass – etwa in der Schule – "traditionelle, offen antisemitische Begriffe und Symbole" auftreten? Vermutlich werden die meisten Deutschen heute, die in den 1980er-Jahren das Gymnasium besucht haben, sich an einen sehr bemühten Aufklärungsunterricht über die NS-Zeit erinnern, zugleich aber auch an Mitschüler, die auf irrationale Weise und durchaus in feindseliger Absicht sich abschätzig gegenüber anderen unter Verwendung der NS-Begriffe und -Symbole äußerten. Auch damals war der Umgang miteinander mitunter oft alles andere als nett. Rüde "Menschenfeindlichkeit", von Gauck aufrichtig beklagt, ist nicht neu. Die juvenile, pubertäre Aggression hatte und hat noch immer viele Gesichter. Ob der ironisch-sarkastische Konversationsstil lauer Heiterkeit, der im Alltag zuweilen vorherrscht, ein Zivilisationsfortschritt oder eher ein Dekadenzsymptom ist, darüber könnte noch nachgedacht werden. Viele Menschen heute führen zudem scheinbar gute Gespräche – wer aber führt wirklich ernsthafte Gespräche, in denen der Partner dreidimensional, als Person, wahrgenommen und nicht von vornherein belächelt oder belehrt wird?
Joachim Gauck äußert Kritik am parlamentarischen Umgang mit der Alternative für Deutschland (AfD), denn bei der "Wahl des Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, die von jeder Fraktion gestellt werden können, fielen die beiden Kandidaten der AfD jeweils drei Mal und damit endgültig durch". Er gibt zu bedenken: "Mag die erste Ablehnung noch verständlich sein, weil es nachvollziehbare Gründe dafür gab, so zeigt die zweite Ablehnung, dass eine Gleichbehandlung der AfD-Abgeordneten nicht gewollt war. Ich finde es aber höchst problematisch, wenn den Vertretern einer in demokratischen Wahlen gewählten Partei Verabredungen der parlamentarischen Geschäftsordnung vorenthalten werden, wie sie allen anderen Fraktionen im Bundes- oder Landtag zugebilligt sind – jedenfalls solange sie sich an Recht und Gesetz halten." Diese Auffassung des Bundespräsidenten außer Dienst hat schon medial heftige Kontroversen ausgelöst. Ja, man kann, darf, soll und muss darüber begründet streiten – und nicht schweigen. Ist das richtig, ist das falsch? Hat Gauck recht? Sachliche Nüchternheit könnte ein tauglicherer Ratgeber sein als jede Form von Angst.
Leidenschaftlich fordert Joachim Gauck die Besinnung auf Toleranz, die eine "zivilisatorische Leistung" sei, und den Schutz wie die Achtung der Würde des Menschen. Zugleich ist er skeptisch gegenüber dem "neuen Leitbild", das "Diversität" zu lauten scheine. Er bewundert "Empathie", fürchtet aber "Naivität". Mit Sorge beobachtet er die politische Entwicklung: "Die Dialogkultur hat erheblich gelitten, ein Miteinander-Reden ist manchmal nicht mehr möglich. Statt das Gespräch oder auch den handfesten Disput mit Andersdenkenden zu suchen, ziehen sich nicht wenige Bürger in gleichgesinnte Lebenswelten zurück."
Der ehemalige Bundespräsident liefert in seinem reichhaltigen Buch Denkanstöße. Er spricht von einer kontrollierten Zuwanderungspolitik, für die das "Einverständnis der Gesellschaft" erforderlich sei, und bekräftigt, was er 2015 bei der Interkulturellen Woche gesagt habe: "Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich." Heute sei ein Deutscher "nicht automatisch mehr ethnisch deutsch und nicht unbedingt protestantisch, katholisch oder (wie besonders in Ostdeutschland) konfessionslos". Gauck beschreibt Tatsachen. Er stellt Fragen, die an alle Politiker und an alle Parteien gerichtet sind, die sich im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung bewegen: "Welche Zuwanderung nützt unserem Land, zu wie viel Solidarität ist die Bevölkerung bereit, und wie muss Zuwanderung aussehen, damit Bürger sich nicht im eigenen Land fremd fühlen?" Joachim Gauck verfügt über einen klaren Blick und über politische Urteilskraft. Er spricht Themen an, die gegenwärtig und noch lange Zeit für Diskussionen sorgen werden. Eine Gesprächsanregung lautet: "Ich finde deine Andersartigkeit (nach wie vor) verstörend, will auch weiter mit dir darüber streiten. Aber am wichtigsten ist mir, dass unsere Unterschiede uns nicht in zwei unterschiedliche Welten treiben. Denn wir gehören doch zusammen, jedenfalls so lange die Demokratie unsere gemeinsame Heimat bleibt."
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