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Thomas Pynchon: Bleeding Edge

Abstruse Normalitäten

Thomas Pynchon gilt bei Kennern als bedeutender Schriftsteller. Dazu trägt auch bei, dass es kaum öffentliche Spuren seiner Existenz gibt. Ich selber kenne nur Buchtitel wie "Mason & Dixon" und "V". "Bleeding Edge" ist mein erstes Buch von ihm. Und es beginnt so:

Maxine Tarnow, jüdisch, geschieden, zwei schulpflichtige Kinder, ist Inhaberin einer kleinen Betrugsermittlungsagentur auf der Upper West Side. In den Nachwehen der Trennung von ihrem Mann begibt sie sich auf eine Kreuzfahrt und erfährt erst an ihrem ersten Abend auf See, dass sie sich auf einer jährlichen Veranstaltung von Amerikanern mit Borderline-Persönlichkeitsstörung befindet. Dabei lernt sie den Dokumentarfilmer Reg Despard kennen, der sich verfolgt fühlt.

Eine recht aberwitzige Internet/Geldtransfer-Geschichte/Verschwörung nimmt ihren Lauf, die jedoch, hält man sich den realen täglichen Aberwitz vor Augen, eigentlich gar nicht so abstrus, sondern mindestens ebenso realistisch ist wie das, was man uns gemeinhin als Normalität zu verkaufen versucht.

Schon recht bald hatte ich den Faden verloren, doch das störte mich nicht, denn "Bleeding Edge" ist voll von überaus faszinierenden Szenen, die für mich die Lektüre nicht nur lohnen, sondern mich für Pynchons Schreiben regelrecht begeistern. Selten, dass ich bei einer Geschichte, der ich nicht wirklich folgen kann, nicht entnervt aufgebe, sondern immer wieder aufjuble, so treffend ist dieses New York, ja das Leben überhaupt, und der Umgang der Menschen miteinander geschildert.

Diese Szene in der U-Bahn etwa:
"Heute predigte ein verrückter weisser Missionar am einen Ende des Wagens gegen eine schwarze A-capella-Gruppe am anderen Ende an. Ideale Bedingungen."

Oder diese hier:
"'Ahh! Wolle Sie was-e zum Es-sen? Wie wärs-e mit-e diese Paprika-Ei-Sandewitsch?'
'Danke, aber ich habe gerade ...'
'Paprika-Ei-Sandewitsch von meine Mama.'
'Tja, Mr. Slagiatt, kommt drauf an. Meinen Sie nach dem Rezept Ihrer Mutter? Oder ist es ihr, wie soll ich sagen, persönliches Paprika-Ei-Sandwich, das sie auf die Anrichte da gelegt hat anstatt in den Kühlschrank, wo es hingehört?' Durch Shawn ist Maxine mit der exotischen asiatischen Technik vertraut, die unter dem Namen "Falsches Essen" bekannt ist, und so wird sie, wenn es hart auf hart geht, nur so tun, als würde sie das Paprika-Ei-Sandwich essen, das, trotz des authentischen Anscheins, mit allem Möglichen kontaminiert sein könnte.'
'Ach, schon-e gut.' Er nimmt das Ding, das jetzt tatsächlich unnatürlich weich und labbrig zu sein scheint - 'Ist aus Plastik' - , und wirft es in eine Schreibtischschublade."

Und:
"'Meinen Sie, Israel spioniert uns nicht aus? Erinnern Sie sich an den Fall Pollard damals - 1985? Selbst linke Zeitungen wie die New York Times haben darüber berichtet, Ms. Tarnow.'
Wie rechts, fragt sich Maxine, muss einer sein, um die New York Times für eine linke Zeitung zu halten?"

Und:
"'Wenn es um betrügerische Machenschaften geht, würden wir gern davon erfahren. Irgendwann.'
'Ist das ein Auftrag? Für Geld? Oder haben Sie vor, sich auf Ihren Charme zu verlassen?'"

"Bleeding Edge" ist nicht nur unterhaltsam und lehrreich, sondern vor allem: prall, intensiv, voller Leben. Eine Entdeckung!


von Hans Durrer - 08. Januar 2015
Bleeding Edge
Thomas Pynchon
Dirk van Gunsteren (Übersetzung)
Bleeding Edge

Rowohlt 2014
608 Seiten, gebunden
EAN 978-3498053154