Ilsa Barea-Kulcsar: Telefónica

Orwell? Malraux? Hemingway? Nein, Ilse Barea-Kulcsar!

„Schauen Sie sich das Haus gut an, Johnson, dort werden Sie von jetzt an den Hauptteil ihrer Zeit verbringen. Die Presse und die Zensur sind dort zu hause. Es ist das höchste Haus von Madrid und die beste Zielscheibe für die Nationalisten.“

Das Haus ist die Telefonzentrale Madrids, und Johnson soll für eine britische Zeitung vom Spanischen Bürgerkrieg berichten. Der tobt seit Monaten nicht nur in der Hauptstadt. Die Aufständischen unter dem nationalistisch-faschistischen General Franco haben fast den gesamten Norden und Osten des Landes sowie Teile Andalusiens besetzt, darunter die Städte Cádiz, Jerez, Sevilla, Córdoba und Granada. Um Madrid herum haben sie einen Belagerungsring gezogen und bombardieren mit Flugzeugen und schwerer Artillerie Häuser und Straßen. Täglich sterben Dutzende. Madrid wird fallen, prophezeien Johnson und seine Kollegen immer wieder. Doch Madrid fällt nicht.

Symbolisch für den Verteidigungskampf und titelgebend für Ilsa Barea-Kulcsars Roman steht die Telefónica. Das militärische Oberkommando dort hat Agustín Sánchez. Keine leichte Aufgabe: Der dreizehnstöckige Riesenkasten ist gerade mal einen Kilometer von der Front entfernt, die Flugabwehrgeschütze auf dem Dach sind veraltet und die Jagdflieger, die Francos Bomber attackieren sollen, zu spärlich. Unterstützt werden die Aufständischen von italienischen und deutschen Faschisten. Mussolini und Hitler haben Teile ihrer Luftwaffe samt Piloten nach Spanien entsendet. Die gewählte spanische Regierung, von sämtlichen demokratischen Staatschefs in Europa im Stich gelassen, erhält nur Unterstützung durch die Sowjetunion – und muss diese teuer mit ihren Goldreserven bezahlen. Nur von ihrem Idealismus getrieben verteidigen außerdem Freiwillige aus ganz Europa, die Internationalen Brigaden (noch heißen sie Kolonnen, die Zahl der Kämpfer wie ihr Organisationsgrad wächst ständig an), die spanische Republik. 

Eine von ihnen ist die deutsche Journalistin Anita Adam. Sie arbeitet in der Zensurbehörde der Telefónica. Ihre Aufgabe ist es zu verhindern, dass über Zeitungsberichte militärisch verwertbare Informationen an den Feind gelangen. Offenbar arbeitet ihre Abteilung sehr erfolgreich, denn Madrid fällt nicht und wird auch die nächsten Jahre nicht fallen, bis fast zum Ende des Bürgerkriegs, in dem die Faschisten dank der ausländischen Unterstützung und des je nach Lesart Versagens, Verweigerns, Verrats der europäischen Demokratien schließlich siegen.

Die Handlung spielt während vier Tagen im Dezember 1936. Sie ist wie ein Kammerspiel angelegt, ohne den engen Grenzen eines Theaterstücks zu unterliegen. Alles spielt sich in den verschiedenen Stockwerken der Telefónica ab, welche die Protagonisten nur des Nachts oder für einen kurzen Abstecher in eines der umliegenden Restaurants oder Cafés verlassen. Manche schlafen auch am Arbeitsplatz, weil sie selbst in den Stunden, in denen andere sich gründlicher erholen, unabkömmlich sind. Ohnehin sind die Keller des Gebäudes ständig belegt mit Familien, die vor Francos Bomben geflüchtet sind.
Die Situation ist also angespannt. Hinzu kommen die Zwistigkeiten unter den Verteidigern der Telefónica, die auch in dieser Beziehung als Mikrokosmos des Bürgerkriegs herhält. Kommunisten, Sozialisten, unabhängige Marxisten und Anarchisten misstrauen sich, belauern sich, giften sich an. Mittendrin ist Anita, die mit allen auskommen muss und Gefahr läuft, in diesem Streit auf der Strecke zu bleiben. Einmal entgeht sie nur knapp einer Liquidierung, als ein kommunistischer Agent ihr „den „Spaziergang geben“ will, wie der hinterrücks ausgeführte Fangschuss beschönigend genannt wird.

Anita überlebt, weil sie lernt, auf was es ankommt: eine persönliche Beziehung zu all jenen herzustellen, mit denen sie es zu tun hat, ohne diesen in den Arsch zu kriechen und die eigene Würde zu verlieren. Sehr bald wird ihre Arbeit von den meisten anerkannt und auch wertgeschätzt, da sie ihren Zweck erfüllt, ohne die Wahrheit abzuwürgen. Der Respekt für die Person wächst automatisch mit. 

Auch andere Protagonisten im Roman durchlaufen einen Lernprozess. Ein bislang unparteiischer Journalist gibt seine Neutralität auf, nachdem er die Opfer sieht, die ein faschistisches Bombardement gefordert hat. Einige der Frauen im Keller, die bislang brav die Weibchenrolle in der männerdominierten spanischen Gesellschaft ausgefüllt haben, nehmen sich das Verhalten der emanzipierten Anna zum Vorbild, machen sich für die Gemeinschaft nützlich und entwickeln neues Selbstbewusstsein. Die Anarchisten in der Telefónica, die sich nur ungern von alles besser wissenden Ausländern bevormunden lassen, revidieren ihr Urteil über eine, ausgerechnet, Deutsche, weil sie erkennen, dass sich mit ihr auf Augenhöhe kommunizieren und eine Entscheidungsfindung unter Gleichberechtigten herbeiführen lässt.

Trotz all der didaktischen Ansätze ist der Roman keinesfalls schematisch oder gar langweilig. Ilsa Barea-Kulcsar wechselt Perspektiven, flicht Beschreibungen ein, variiert das Tempo, beherrscht den reflektierenden inneren Monolog ebenso wie den handlungstreibenden Dialog, entwickelt ihre Figuren und lässt sie manchmal ratlos zurück. „Sie“, heißt es in der dritten Person über die weibliche Hauptperson, „hat nun drei Stunden lang Meldungen über Tote, Bomben, Flieger, zerstörte Häuser und Angriffe an den Fronten zensuriert und hat keine Ahnung, was wirklich los ist. Sie hat die wenigen Stunden des Schlafes gut ausgenützt und ist arbeitsfähig. Aber wieder hat sie, während die Bomben so nahe fielen, den Willen übermächtig empfunden, ordentlich zu sterben, wenn es sein musste, und ihr Leben gut zu leben, wenn es sein durfte. Sie denkt an sich wie an eine Fremde und an die Menschen in Madrid wie an sich selbst – als Menschen zwischen Tod und Leben.“ So viel Pathos darf sein, zumal im Roman, vor allem, wenn es direkt im Anschluss wohltuend nüchtern weitergeht: „Nun ist sie erschöpft, weil der Strom der Pressemeldungen stockt und sie allein ist mit dem Tacken der Maschinengewehre und Gewehre, das durch das offene Fenster eintönig eindringt und das Zimmer füllt.“ 

Eine männliche Hauptperson gibt es auch. Es ist Agustín Sánchez, der Kommandant. Zwischen ihm und Anita Adam entspannt sich eine Liebesgeschichte; obwohl Anita nach eigener Aussage nicht gut aussieht (worauf es aber nicht ankommt) und Sánchez neben einer Ehefrau auch eine Geliebte besitzt, die beide ebenfalls in der Telefónica einquartiert sind (woran man wiederum schlecht vorbeikommt). Hier liegt die einzige Schwäche des Romans: Während Paquita, die Geliebte, neben Schablonenschönheit und Intrigantentum, welches mehr der Unbekümmertheit denn reiner Bosheit geschuldet ist und einen Rest an Sympathie ausstrahlen lässt, auch mit einigen Vorzügen aufwarten kann, ihrer Furchtlosigkeit und Direktheit beispielsweise, wird die Gattin Pepita nur holzschnittartig dargestellt, als verwöhnte Bürgertochter, die meist ihren eigenen Vorteil im Sinn hat und selten weiter denkt als ein Maikäfer scheißt. 

Von diesem Detail abgesehen, ist Ilsa Barea-Kulcsar ein richtig großer Wurf gelungen. Der Roman taucht zwar in eine ganz andere Zeit ein, wirkt aber ebenso zeitlos, indem er anschaulich die beklemmende Atmosphäre und entstehenden Konflikte zwischen Eingeschlossenen schildert, die sich freiwillig in eine Situation begeben haben, aus der es so leicht kein Entrinnen gibt. Ein wenig Hoffnung gibt es auch, längst nicht für alle, aber doch für diejenigen in der Telefónica, denen es gelingt, über den eigenen Schatten zu springen und unkonventionelle Lösungswege zu beschreiten. Klingt doch sehr modern, oder?

Fragt sich, warum die Autorin nicht einen ähnlichen Ruf genießt wie, greifen wir mal ganz hoch, ein George Orwell, André Malraux oder Gustav Regler? Auch sie haben sich literarisch mit ihrer Spanienerfahrung auseinandergesetzt, ohne dass, Orwells Mein Katalonien vielleicht ausgenommen, ihre Qualität diejenige Ilsa Barea-Kulcsars überragt. Oder Ernest Hemingway: Der Meister der kurzen Form hat einen sehr langen Roman all jenen gewidmet, denen im Spanischen Bürgerkrieg die Stunde schlägt. Es ist nicht sein bester, aber ein sehr erfolgreicher, und das könnte damit zu tun haben, dass der gute alte Ernest ein Mann war, dass er andere gute alte Männer kannte, die im Literaturbetrieb daheim waren, und dass er, ohne sich allzu sehr verleugnen zu müssen, das Interesse der Kritik und des Publikums zu bedienen verstand, wobei ihm manch überflüssige Sentimentalität in der Schilderung nachgesehen wurde. 

Die stets stilsichere Ilsa Barea-Kulcsar wurde dagegen kaum wahrgenommen. Zum Glück hat Georg Pichler den Roman nicht nur wieder ausgebuddelt und herausgegeben (in sehr schöner, das Lesevergnügen noch angenehmer gestaltenden Aufmachung, der Wiener Edition Atelier sei Dank!), sondern auch in seinem langen und kurzweiligen Nachwort Antworten zu geben versucht, warum der verdiente Erfolg ausblieb. Am Talent hat es wohl kaum gelegen, eher an den Verhältnissen. Vor allem ist der Lebensweg der Autorin, der sie wie ihre Figur Anita Adam nach Spanien geführt hat, um als Kämpferin die Demokratie zu retten und als Journalistin die Welt aufzurütteln, typisch für die Schicksale vieler weiterer Antifaschisten nach dem Bürgerkrieg. 

Aus Spanien floh Ilsa Barea-Kulcsar zunächst nach Paris, zusammen mit ihrem Partner, der im wirklichen Leben Arturo Barea hieß, aber tatsächlich Kommandant der Telefónica war. Später gingen beide ins Exil nach England. Dort wurde Ilsa Barea-Kulcsar, die aus Wien stammte, nicht anders wahrgenommen als eine Deutsche, nämlich als Angehörige einer Feindnation. Nach dem Krieg blieb sie auf der Insel und verdiente ihren Lebensunterhalt als Dolmetscherin. Was auch blieb, waren die Schwierigkeiten bei der Ernährung ihrer Familie. Neben Arturo zählten dazu auch ihre jüdischen Eltern, die sich vor den Nationalsozialisten knapp in Sicherheit gebracht hatten. Viel Zeit fürs Schreiben blieb nicht. Dies änderte sich auch nicht mit dem frühen Tod Arturos, der in der Nacht zu Heiligabend 1957 einem Herzinfarkt erlag.

Acht Jahre später ging Ilsa Barea-Kulcsar nach Österreich zurück. In Wien kam sie bei der Gewerkschaft unter, als Bildungsfunktionärin. Nebenbei brachte sie hin und wieder etwas zu Papier, kam aber nie über Publikationen in Periodika hinaus. Ihr großes Ziel, Telefónica als Roman zwischen Buchdeckeln erscheinen zu lassen, erfüllte sich nicht. Zusätzlich warfen sie gesundheitliche Probleme zurück. Die Krankheiten nahmen zu, die Produktivität ab. Neben Rheuma und Diabetes machte der starken Raucherin die Lunge zu schaffen. 

Ilsa Barea-Kulcsar starb am Neujahrstag 1973. Sie war nur 70 Jahre alt geworden. So blieb es bei der einzigen Veröffentlichung von Telefónica in der Wiener Arbeiter-Zeitung, in Etappenform zwischen 13. März und 4. Juni 1949. Mit der Wiederausgrabung ihres Romans ist der im Leben durch machtbewusste und pflichtvergessene Eliten häufig benachteiligten Autorin doch noch etwas wie Gerechtigkeit widerfahren, wenn auch nur posthum.

Telefónica
Telefónica
352 Seiten, gebunden
EAN 978-3990650172

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