Machtstrukturen in der traditionellen Türkei
In einer ostanatolischen Kleinstadt sitzt ein Wurstwarenfabrikant in der Klemme. Er hat nicht nur Geflügel und Lammfleisch verarbeitet, sondern alles, was er billig bekommen konnte, auch Esels- und Pferdefleisch. Als die Sache auffliegt, sieht es schlecht für ihn und seine Fabrik aus. Ein reicher Unternehmer und Politiker, ein echter Bey, der den Regierungsbezirk fest im Griff hat und dessen Kontakte bis nach Ankara reichen, hilft ihm aus der Patsche. Da muss man sich doch erkenntlich zeigen! Der Wurstfabrikant schickt dem Lokalfürsten zum Dank eine Huri, die hübscheste Jungfrau, derer er habhaft werden kann, und findet auch im Nachhinein, als diese Angelegenheit bereits vor Gericht verhandelt wird, nichts dabei, dass er für seine Zwecke ein armes, 16-jähriges Nomadenmädchen entführen ließ, das von seinen Helfershelfern später zur Prostitution gezwungen und anschließend nach Istanbul verkauft wurde.
Der 1931 in Izmir geborene Journalist, Verleger und Schriftsteller Tarık Dursun (Kakınç) veröffentlichte den Roman "Alçaktan Uçan Güvercin" (Tief fliegende Taube) bereits 1998. Die Geschichte beruht auf einer wahren Gegebenheit, die sich Mitte der 1970er Jahre in Kemaliye zutrug. YKY hat den Roman nun neu aufgelegt, und man stellt fest, dass das Werk nicht nur ein wichtiges Zeitdokument zu den Machtstrukturen und der gesellschaftlich-politischen Situation in ländlichen und verschiedenen städtischen Milieus darstellt, sondern auch in literarischer Hinsicht absolut lesenswert ist. Tarık Dursun schildert die politischen Spannungen der 1970er Jahre in der Türkei zwischen der damals noch sozialistischen CHP (Republikanische Volkspartei) und der regierenden wirtschaftlich liberalen, politisch national-konservativen AP (Partei der Gerechtigkeit) unter Süleyman Demirel, wobei der Autor eindeutig Position für die Linke bezieht. Wichtiger allerdings ist, dass er die lokalen Machtstrukturen in der traditionellen Türkei aufdeckt und zeigt, dass mit der Einführung der Republik das überkommene System der lokalen Herrscher nicht überwunden werden konnte.
In Kemaliye aber prallt die großstädtisch-aufgeschlossene, vom Kemalismus geprägte Welt von Richter und Staatsanwalt nicht nur gegen eine Kultur von Korruption und Klüngel - vertreten durch die wirtschaftliche und politische Elite der Kleinstadt, die ihre Macht mit allen Mitteln zu erhalten versteht, - sondern auch gegen eine traditionelle Macho-Kultur, die von den vierzehn Angeklagten repräsentiert wird. Für letztere ist ein armes Dorfmädchen nicht mehr als eine billige Ware, die ohne die geringsten Hemmungen sexuell ausgebeutet, verachtet, verhöhnt, verkauft und schlechter behandelt wird als jede Kuh, die wenigstens regelmäßig ihr Futter bekommt. Keiner hat ein Einsehen, niemand die geringste Spur von Mitleid oder Empathie, die Männer sehen nur sich selbst, ihr Vergnügen, ihre Unersättlichkeit und das mit der sexuellen Gier anderer Männer leicht zu verdienende Geld.
Der engagierte Staatsanwalt Fahri Ergün weist in seinem Plädoyer darauf hin, dass die Republik schon fünfzig Jahre bestehe, dass die Rechte der Frau nicht nur auf dem Papier stünden und es nicht die gesellschaftliche Rolle eines Mädchens sei, die sexuellen Wünsche von Männern zu befriedigen. Er erreicht eine Verurteilung der Angeklagten zu langen Haftstrafen. Das allerdings versteht der reiche Unternehmer und Lokalfürst als Angriff auf die Machtstrukturen. Die alte Regel lautet: Ein Wort des Bey genügt. Wenn der Lokalfürst aber trotz aller Anstrengungen nichts erreicht, wenn alle Einflussnahme wirkungslos bleibt, dann ist das traditionelle gesellschaftliche System in Frage gestellt. Der Staatsanwalt bezahlt diese Kriegserklärung an die überkommenen Regeln mit dem Leben. "Fahri Ergün hatte es gewagt, entgegen dem Jahrhunderte alten Herkommen einem Brauch Einhalt zu gebieten. Das war ein unverzeihliches Verbrechen!"
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