Ein Satz und seine Folgen
Von einer Bestsellerautorin soll hier nicht gesprochen werden, das Wort wird zu schnell und oft in den Mund genommen, geraten doch erstaunlich viele Bücher auf eine Bestsellerliste. Aber: Dieser Roman ist sicherlich interessanter als so mancher Bestseller.
Die Rede ist von der US-amerikanischen Schriftstellerin Susan Choi, Jahrgang 1969. Mehrfach gelangte sie in die Endrunden ausgelobter literarischer Preise, war für den Pulitzer nominiert, gewann den Asian-American Literary Award, war Guggenheim-Stipendiatin 2004. Und nun erscheint ihr dritter Roman "A person of interest" im Aufbau-Verlag als erster Roman Chois, der ins Deutsche übersetzt wurde. Mit dem Entschluss diesen Roman zu publizieren, ist dem Verlag wieder einer der guten Würfe gelungen, die das Renommee des Traditionsverlags ausmachen.
Der Roman der Amerikanerin ist eine Reise in die Innenwelt von Professor Lee, einem unauffälligen Mann, dessen Leben aus nichts als Routine besteht, manche würden es unspannend und belanglos nennen.
Lee ist ein asiatischer Einwanderer, dessen Herkunftsland nicht genannt wird (es gibt Indizien für Japan, aber ob das zutrifft, kann der Leser nicht endgültig entscheiden). Er studierte in den USA Mathematik und hält, nun im siebten Lebensjahrzehnt, noch immer an derselben Universität, an der er seinen Doktor machte, eine Professur auf Lebenszeit. Er ist ein guter Mathematiker, aber keine Koryphäe, vor allen Dingen keine Persönlichkeit, die nach außen wirkt, die von Äußerlichkeiten angezogen wird.
Neben seinem Zimmer am Lehrstuhl befindet sich das Büro des Kollegen Hendley, ein junger und charismatischer Mann, bei allen beliebt. Das Gegenteil von Lee. Mit einer gewissen Eifersucht nimmt er die Scharen von Studenten wahr, die in Hendleys Sprechstunde strömen. Seine eigene, immer einen Spalt geöffnete Tür macht dagegen niemand auf. Und dann geschieht, was Lees Leben und seine Psyche vollkommen durcheinander wirbelt: Es ist Sprechstundenzeit, die Professoren sitzen in ihren Zimmern, als Lee plötzlich von einer Detonation - er erkennt gleich, dass es sich um eine Bombe handeln muss - vom Stuhl gerissen wird und sich unter seinem Schreibtisch wieder findet. Das Opfer der Briefbombe ist Hendley.
Und dort, unter seinem Schreibtisch hockend, denkt Lee den einen Satz, der der Auslöser ist für die Turbulenzen seiner Psyche, der ihn wieder und wieder in sein eigenes Leben abtauchen lässt, ihn gewissermaßen in eine Zeitreise seines Lebens katapultiert. Gleichzeitig aber, und auch das ist Folge dieses Satzes, weil er das Verhalten Lees bestimmt, wird er im Zuge der Ermittlungen zu einer "Person von Interesse" für das FBI. Was aber schoss dem Professor als Erstes durch den Kopf, als er realisierte, dass die Bombe bei Hendley hochging? "Ah, wie gut."
Er denkt diesen Satz und bemerkt, dass er seinen Kollegen nicht ausstehen konnte. Und das wiederum löst vor dem Hintergrund, dass Hendley das Opfer eines Attentats geworden ist, mit dem man mitleidet, Scham und Schuldgefühle bei Lee aus. Es ist wie eine Karussellfahrt, denn die Schuldgefühle lassen ihn sein Leben Revue passieren, es fallen ihm unendlich viele Situationen aus der Vergangenheit wieder ein, Szenen, die Fragen aufwerfen. Als er noch dazu ein paar Tage später einen Brief erhält, den er einem Kommilitonen aus längst vergangenen Tagen zuschreibt, hat er sich vollkommen in seinem eigenen Gefühlsnetz verstrickt: Schuld und Reue kristallisieren sich als seine Lebensthemen.
Lees Reise zurück konfrontiert ihn mit Versäumnissen und Fehlern, die ihm nahestehende Menschen entfremdeten. Die Explosion schickt ihn auf einen langen, langen Weg, an dessen Ende er endlich versteht, was seine erste, von ihm geschiedene Frau Aileen bewegte und umtrieb. Sie ist zwar schon Jahre tot, doch für ihn noch immer Ansprechpartner im gedanklichen Zwiegespräch. Und quasi als Belohnung bekommt er die Chance, der Frau, mit der er sich noch immer verheiratet fühlt, eine Schuld aus dem Eheleben zumindest zu beginnen abzutragen.
Dies ist aber nur eine Ebene in dem mehrschichtigen Roman der Amerikanerin. Denn es ist ein Roman, der nach den Attentaten des 11. September entstand, der also die Veränderung der Gesellschaft mit aufgreift. Und das macht Choi ganz subtil, passend zum Sujet, denn langsam und unmerklich ist das Land in eine Paranoia abgedriftet, die sich auf Fremdes richtet. Was früher als Element des Schmelztiegels galt, kann sich heute schnell zu unbegründetem Hass auf und Angst vor Fremden entwickeln. Lee, der in seinem Verharren in sich selbst, seiner Kontaktlosigkeit jahrzehntelang unbehelligt lebte, wird nun durch sein unangepasstes Verhalten zu einem Verdächtigen. Dies gilt nicht nur für die nächsten Nachbarn, sondern auch für die ermittelnden Beamten: Alles, was nicht konform ist, ist verdächtig. Was soll man auch von einem Mann halten, der der allgemeinen Trauerfeier für den toten Kollegen fern bleibt, sich jeglicher Verarbeitungsgespräche und Betreuung entzieht, dessen einzige Konstanten im Leben sein alter Schreibtisch, seine Seiko, der Montblanc und die Aktentasche sind, der des nachts im Garten gräbt, dessen Haus eher einer Studentenbude denn der Wohnstatt eines älteren Herrn gleicht?
Chois Roman ist keine ganz einfache Lektüre, die Autorin mag lange Sätze. Man hat sich nicht sofort eingelesen, der Text entwickelt sein Tempo zunächst nur langsam. Doch dann kommt die aufgebaute Spannung zum Tragen, plötzlich fühlt man sich in einen Krimi versetzt. Und verlässt das Buch am Ende in der Gewissheit, dass Choi einen klugen Blick auf einen Menschen und auf ihr Land geworfen hat. Leser sollten diese Autorin im Blick behalten.
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