9/11 hautnah
Jon ist Däne und arbeitet in Manhattan als Anwalt, seine israelische Freundin Eve bei einer Immobilienfirma. Am 11. September 2001 verlassen sie gemeinsam ihr Appartement - er, um einen neuen muslimischen Mandanten zu treffen, der des Mordes beschuldigt wird; sie, um zu ihrer Arbeitsstelle im Südturm des World Trade Centers zu gehen.
Kann so eine Geschichte funktionieren, bei der doch alle schon im Vorneherein wissen, wie sie (zumindest in wesentlichen Teilen) ausgehen wird? Bevor ich "Im Schattenland" gelesen habe, hätte ich mit Nein geantwortet, doch die Lektüre hat mich eines Besseren gelehrt. Woran liegt es? Daran, dass der 1952 in Kopenhagen geborene Stig Dalager gleichzeitig sehr bildhaft und beeindruckend realistisch zu schreiben versteht: "Sie sieht es, kann aber nicht glauben, was vor ihren Augen passiert: Ein Flugzeug, das im Licht wie ein phantasmagorischer, schattenartiger Vogel mit weit aufgespannten Tragflächen auftaucht, hält Kurs auf das Gebäude und verschwindet im nächsten Augenblick mit einem enormen Krachen im Nordturm; fast im selben Moment scheint im oberen Teil des Gebäudes ein Feuer auszubrechen, Flammen und schwarze Rauchwolken schlagen heraus; sie schwankt leicht und schaut auf das unwirkliche Szenarium, bis ihr im nächsten Moment klar wird, dass es real ist, was sie sieht: Nicht weit von ihr entfernt hat ein Flugzeug ein riesiges Loch in den oberen Teil des Nordturms gerissen und ihn in Brand gesetzt. Der weisse, graue und schwarze Rauch wird immer schwärzer und wälzt sich in Wolkenwellen von zunehmender Stärke aus dem Loch, hüllt langsam alle Stockwerke im oberen Teil ein ..."
Es finden sich viele solcher eindringlich geschilderter Szenen in diesem Buch, doch es gibt auch andere, die wenig überzeugen - weil die Idee dahinter nicht zu überzeugen vermag: dass und wie Jon, der von dem brennenden Südturm erfahren hatte, dorthin eilt und Eve rettet - zum Beispiel. Wenig stimmig ist auch, dass Jon, der nach dem Angriff auf das World Trade Center immer mal wieder seine Ex-Frau in Wien anruft, dabei jedoch derart ausweichend auf ihre Fragen Antwort gibt, dass man sich schon mal fragt, ob dem Autor wohl sein Realitätssinn abhanden gekommen ist:
"Etwas Schlimmes?" (fragt sie)
"Ja, New York wurde von Terroristen angegriffen."
"Das weiss ich", sagt sie und atmet schneller am Telefon. "Die ganze Welt weiss es, aber wo bist du gewesen, als es passierte?"
"Ich war in der Nähe", sagt er. "Aber vergiss es. Jetzt ist es okay."
"Das hast du schon mal gesagt, aber ich glaube dir nicht, ich glaube nicht, dass es okay ist, Jon."
Es gibt noch mehr in diesem Buch, das wenig plausibel erscheint, doch das sind Details. Gesamthaft gesehen ist "Im Schattenland" ein spannender und gut geschriebener (weit besser als die meisten Werke dieses Genres) Polit-Thriller. Zudem ist er streckenweise sehr informativ: "Im World Trade Center fällt ein drittes Gebäude mit siebenundvierzig Etagen in sich zusammen, ein viertes Gebäude kollabiert, One Liberty Plaza mit vierundfünfzig Etagen, in einer Wolke aus Staub und Russ." Sehr gut getroffen ist auch die teilweise recht paranoide Stimmung nach den Ereignissen vom 11. September 2001 - wer sich damals wie Jon und sein Arbeitskollege für die Rechte eines muslimischen Angeklagten einsetzte, wurde praktisch wie ein "Homeland"-Verräter behandelt oder dem wurde, wie im Falle von Jon, mit Landesverweisung gedroht.
Der Schlussteil des Buches spielt dann im Jahr 2002, und zwar in Israel und Palästina, und handelt natürlich auch von Terroristen. Es wäre kein Verlust gewesen, wenn man ihn weggelassen hätte.
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