Ernst Osterkamp: Sterne in stiller werdenden Nächten

Wanderungen durch Goethes Welt

Johann Wolfgang von Goethes Werk zeigt in mannigfaltigen Formen der Prosa und Gedichten, in Reisebeschreibungen, Briefen, Dramen und naturwissenschaftlichen Abhandlungen, die leuchtende Klarheit der Kunst. Fernab jeglicher Verklärung, in sorgfältiger, akkurater Nachzeichnung und sympathetischer Deutung auf den Wegen der zarten Empirie, der behutsamen, sensiblen Annäherung an den Dichter und sein Schrifttum, legt Ernst Osterkamp eine Sammlung von höchst bemerkenswerten Studien vor – Lektüren, die zur Lektüre einladen.

Staunend, auch dankbar, verweist der Germanist auf die „thematische Vielfalt“ und „gedankliche Komplexität“, der die Leserschaft begegnet, die sich auf Goethes Spuren begibt und dessen Spätwerk erkundet, damit einen Raum, in dem vieles Platz finde, das verborgen miteinander verbunden, ja kunstvoll verwoben ist.

Bewusst verweist Goethe, niemals altersmüde oder lebenssatt, auf die Endlichkeit des Lebens, wenn er über die alt gewordenen Philemon und Baucis schreibt. Goethe entdeckt das „Alter als Lebensform“, das nicht auszuhalten, sondern schöpferisch kunstvoll genutzt und gestaltet werden kann, mithilfe der Kunst. Die „Gesetze der Natur“ werden anerkannt. Der Künstler arbeitet einfach weiter, nicht impulsiv, übereilt oder rast- und ruhelos. Freilich, zur Ruhe setzt er sich nicht. Goethe selbst hatte mit der Vorstellung einer „ewigen Seligkeit“ nichts anfangen können. Die Lebensgesetze gilt es zu achten, nicht zu pervertieren: „Den alten Faust lässt Goethe wie Philemon und Baucis, die Fausts Totalitarismus zum Opfer gebracht werden, nicht am Alter sterben, sondern er stirbt an einem Exzess hybriden Selbstgenusses, der Realitätsblindheit voraussetzt.“

Diese Blindheit für die Wirklichkeit ist auch dem alten Goethe fern und fremd. Dem Alter komme auch kein „herausgehobener Status“ zu, es sei einfach die „Fortschreibung des Lebens jenseits des Zenits“, zugleich eine „Lebensphase eigenen Rechts“. Goethe schreibt weiter: „Seine gesamte Existenz, in der Leben und Tätigkeit programmatisch aufeinander bezogen bleiben, war ein bewusster Protest gegen Vergänglichkeitsklage und Vergänglichkeitssemantik, und seine Arbeitsfähigkeit hat er niemals eingebüßt.“ Goethe ordnete, gestaltete, konzentriert und gelassen, vom Zeitgeist separiert, aber wissend darum, dass er die Zeitläufte schreibend nicht ändern würde, vielleicht auch nicht ändern musste. Das ist lange Zeit bei Goethe als olympische Entrücktheit missverstanden worden. Osterkamp tut dies nicht, er weiß wohl, dass der Dichter verborgen vor der Welt und zugleich in ihr einfach leben durfte, leben konnte, aber nicht okkupiert von den Signaturen seines Zeitalters sein wollte. Goethe war so frei. Osterkamp schreibt: „Für Goethe selbst aber hat dieser intentionale Rückzug aus der Zeit in die Einsamkeit das Alter als eine Lebensphase der Freiheit definiert. Je älter er wurde, umso virtuoser lernte es Goethe, die Rolle des Einsamen zu spielen, um in der Freiheit des Alters so produktiv sein zu können wie denkbar.“

In „Die Leiden des jungen Werther“ beschreibt der junge Goethe die Natur als „Seelenspiegel“, später widmet er sich präzisen Notizen, zeichnet nach, zeichnet auch, skizziert, sieht Landstriche, in Italien und anderswo. Das „bestimmende Objektivitätsverlangen“ wird zunehmend gegenwärtig. Der Reisende Goethe möchte genau und akkurat nachzeichnen. Die „Kunst der Landschaftsbeschreibung“ benennt Osterkamp im Folgenden: „Wie der Blick des Zeichners Goethe seinen deskriptiven Landschaftsaufnahmen ästhetische Gestalt verleiht und sie zum Ganzen formt, so sichert der Blick des Naturwissenschaftlers ihnen ihre Präzision im Detail.“ Goethe – vielleicht liegt darin auch die Zuneigung der späten Bewunderer seiner Werke – ist nicht meinungsfreudig, verkündet keine Thesen oder Ansichten, er schaut zu und beschreibt. Der Dichter ordnet sich auch dem unter, was er sieht. Er ist, recht verstanden, ein Handwerker, ein Arbeiter, kein ästhetisch versierter Genius, der spielt. Goethe betrachtet die Natur und instrumentalisiert sie nicht, auch nicht als Spiegelbild seines Innenbildes.

Die Kunst ist „völlig frei und unbedingt“, wann immer und sofern sie ihren eigenen Gesetzen folgt. Auch erotische Szenen dürfen nicht äußerlich, also moralisch, bestimmt und sittlich gewertet sein. Das „biedermeierliche Bewusstsein“ seiner Zeit bleibt ihm wesensfremd, auch die Aufklärer und ihre Gefolgschaft suchten nur eine säkulare „Heilsgewissheit“, von der der alte Goethe nichts wissen mochte. Die Kunst schenkt „Sterne in stiller werdenden Nächten“, das auch auf eine ganz weltliche Art bedacht, ja meditiert werden kann: „Sterne in stiller werdenden Nächten: dies ist ein wunderbar eindringliches Bild für die Bedeutung der Künste im Leben des spätesten Goethe, ein Bild sowohl für die Reduktion der Lebensteilhabe, die Distanz zur Gegenwart und das Einsamkeitsbewusstsein im hohen Alter als auch die fortdauernde Intensität der Lebenszugewandtheit, die die Anschauung eines jeden bedeutenden Kunstwerks ihm gewährte.“

Die Kunst bildete für Goethe ein „Konzentrat seines Daseins“, und besaß auch im hohen Alter, jenseits des Theaters und der Musik lebend, ein „unendliches Interesse“ etwa an Kupferstichen. Das „Bewusstsein der Endlichkeit“ besaß er durchaus, ohne dass er sich einer Altersschwermut hingab oder sich einer solchen unterwarf. Goethe blieb frei. Die Kunst war für ihn der „Ort, an dem es den Tod nicht gab“.

Dem Germanisten Ernst Osterkamp verdanken wir ein reichhaltiges, tiefgründiges und ausgesprochen lesenswertes Buch über den alten Goethe und seine Werke. Der Autor selbst staunt noch immer über den Dichter, und schenkt seinen dankbaren Lesern die Teilhabe an diesem Staunen. Wir dürfen mit Osterkamp Goethes Schrifttum und auch den Dichter selbst mit neuen, mit anderen Augen sehen. Auch sein kunstvolles Buch ist wie ein Stern in einer stiller werdenden Nacht.

Sterne in stiller werdenden Nächten
Sterne in stiller werdenden Nächten
Lektüren zu Goethes Spätwerk
476 Seiten, kartoniert
EAN 978-3465046578

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