Hua Hsu: Stay True

"Eine andere Welt war einst möglich"

Das Pulitzer-Preis-Komitee 2023 war sich einig: Dieser Roman, an dem der Autor immerhin 20 Jahre lang arbeitete, verdiente einen Preis. "Ein eleganter und ergreifender Bericht über das Erwachsenwerden, der sich mit intensiven Jugendfreundschaften, aber auch mit zufälliger Gewalt befasst, die die vermeintliche Logik unserer persönlichen Erzählungen plötzlich und dauerhaft verändern kann", so das Komitee.

Smells like ... Adolescence

Adoleszenz wird im englischen Original als "a transitional stage of physical and psychological development" definiert. Hua Hsu wird schmerzlich früh diesem Prozess unterworfen und altert aufgrund des Todes seines Freundes Ken erstaunlich schnell. Gezwungenermaßen. Zwischen dem Studium für Politische Wissenschaften und Plattenläden lernte er Ken kennen, der soviel Selbstsicherheit verströmt, dass es ihm verdächtig erscheint. Denn normalerweise sind nur Weiße so selbstsicher. Als Ken versucht, ihn dazu zu bringen, Pearl Jam und Classic Rock zu hören, "wich ich angewidert zurück, als würde er mir einen Virus präsentieren". Ken ging es nämlich vor allem darum, Mädchen zu gefallen, denn er glaubte, dass es im Leben auch nur genau darum ginge. Aber wie im Leben sind auch die beiden Freunde trotz aller Gegensätze voneinander angezogen, denn, das wusste schon Derrida, wie Hsu schreibt, sind Gegensätze wechselseitig konstitutiv. Also das eine kommt nicht ohne das andere aus. Neben seinem Studium gibt Hsu ein Fanzine heraus. Die DIY-Ästhetik der Grunger Anfang der Neunziger hat sich Hsu vielleicht etwas von Nirvana abgeschaut. "Nach Cobains Tod fügte sich jedes Detail seines Lebens in ein Narrativ", schreibt er, "Langeweile, Frustration, Angst, Einsamkeit, Freude: Später wurde alles klar, gebündelt als die stürmische Lebenskraft, die ihn antrieb (...)". Aber als Ken länger auf einer Party bleibt und Hua sich früher verabschiedet, sehen sich die beiden ein letztes Mal. Ohne Adieu und Lebewohl.

God Only Knows

"Ich hielt an dem Glauben fest, dass die Tiefs nur der Preis waren, den man solchen Hochs zahlen musste." Ken wird von drei anderen Twens von der Party weg entführt und dann ermordet. Die Auswahl erfolgte "random", zufällig, denn es hätte jeder andere sein können, der das Opfer dieses Gewaltverbrechens wird. "Am Tag nach Kens Tod hörte ich auf, Songs aus einer spezifischen Region meines Gedächtnisses zu hören, mied Schwingungen, die mich an ein bestimmtes Register von Gefühlen erinnerten. Harmonie war verboten; sie ergab keinen Sinn mehr." Nach Kens Tod wird alles anders. "Musik war nicht länger das Abbild einer besseren Welt." Dafür findet Hua Zugang zu Politik und Philosophie der Gegenkultur. "Manchmal schien es, als hätten die Sechziger nie geendet." Hua Hsu beschäftigt sich mit dem Redefreiheitsaktivisten Mario Savio und den Black Panthers, Michael Robin oder dem kanadischen Philosophen Charles Taylor. "Bei Taylor wird jeder zu einem Künstler und ringt auf kreative Weise mit den Parametern seines Wesens", so Hua Hsu. "Sich treu sein", heiße seiner Originalität treu sein, so Hua Hsu als Erklärung für seinen Buchtitel, sein "Memoir über Freundschaft". Der Song God Only Knows (1966) von den Beach Boys suggerierte eine "Sehnsucht jenseits von Liebe" und wird zu einer düsteren Vorahnung dessen, was noch geschehen wird, denn Hua Hsu versteht etwas von Spannungsaufbau. "Wir sind uns nie bewusst, dass wir ständig am Rand der Tragödie leben." Aber auch dies: "Heute war ich tatsächlich glücklich, schrieb ich in diesem Frühling in mein Tagebuch. Und ich meine scheißglücklich, das unbeschwerte Gefühl sorglosen Schwindels.

"Plünderer einer brennenden Stadt"

"Eine Feier dessen, wie es begonnen hatte, statt einer Chronik des freien Falls, ein Tribut an den ersten Schluck, statt all der kreisenden Räume, die folgten." Seine Therapeutin sagt ihm, dass er sich nicht an der Trauer, sondern an der Schuld festklammere, und dass es sinnlos war, sich schuldig zu fühlen, denn was hätte er tun können? Hua Hsu verwehrt sich gegen eine politische Instrumentalisierung des Todes seines Freundes. Er will sich seinen Ken nicht nehmen lassen für einen Kampf gegen anti-asiatischen Rassismus. Angesichts der Dumpfheit der Mörder, die gleich alt wie sie selbst waren, empfindet er weder Wut noch Hass. Er selbst unterrichtet im San Quentin-Gefängnis, vielleicht um ihre Nähe zu erfahren und zu begreifen. Aber es gibt keine Lektion zu begreifen. Auch die "Three Wise Men: Jack, Johnnie und Jim Beam." bieten ihm keine Antwort. Geschweige denn Drogen oder andere Hilfsmittel zu vergessen. Viele seiner Generation würden wegen Gangs und Drogen nie ihr eigentliches, persönliches Potenzial entfalten können. Hua Hsu geht es bei seinem Zine nicht darum, Geld zu verdienen: "Es ging um mehr als Geld". Vielleicht ist dieser Satz die beste Zusammenfassung für die Neunziger, ein Jahrzehnt voller Ideale und, wie man heute erst erkennt, verlorener Ideale. 20 Jahre hat er an diesem Buch geschrieben und dennoch weiß er noch genau, wie die Neunziger waren. Alle seine Kurse am College lehrten nämlich dieselbe Lektion: "Eine andere Welt war einst möglich".

Stay True
Anette Grube (Übersetzung)
Stay True
Ein Memoir über Freundschaft
232 Seiten, gebunden
Originalsprache: Englisch
Aki Verlag 2025
EAN 978-3311350170

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