Zwischen Revolution und Reaktion
Obwohl sich erfreulicherweise die wissenschaftliche Stadtgeschichtsschreibung mittlerweile dem 20. Jahrhundert zugewandt hat, ist die Zeit zwischen den Weltkriegen dennoch für viele Städte weithin unerforscht. Dies galt bis vor kurzem auch für die Stadt Halle an der Saale.
Für einen Beitrag zur zweibändigen Stadtgeschichte hat Hans-Walter Schmuhl eben diese Zeitspanne untersucht und bei seinen Recherchen so viel interessantes Material vorgefunden, dass über den Beitrag hinaus eine eigene Monographie entstehen konnte.
Halle hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine rasche Industrialisierung und einen damit verbundenen Zuzug erlebt. Die mitteldeutsche Stadt war schon 20 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg eine Hochburg der Sozialdemokratie. Während des Krieges driftete die Arbeiterschaft weiter nach links: 1917 trat die hallische Parteiorganisation nahezu geschlossen zur Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) über. In der Novemberrevolution 1918/19 zeigte sich Halle als das "blutrote Herz Mitteldeutschlands". Parallel zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen mit vielen Toten und Verletzten schritt die linke Radikalisierung weiter fort. 1920 kam es zu massenhaften Übertritten zur KPD, die zur stärksten Partei avancierte. Innerhalb des linken Lagers standen Sozialdemokraten und Kommunisten in scharfer Konkurrenz.
Im bürgerlichen Lager wuchs hingegen die Angst vor dem Bolschewismus, die Folge war ein Zusammenrücken und ein Abgleiten nach rechts. Der Stahlhelm erhielt großen Zulauf und besaß in Halle 1924 die reichsweit größte Ortsgruppe. Das fatale Ergebnis dieser Entwicklung war der Verlust der politischen Mitte.
In der Kommunalpolitik herrschte ein Mitte-Rechts-Bündnis und trotz des destruktiven kommunistischen Auftretens entstand gleichwohl ein Reformdruck auf sozialem Gebiet. Dem Magistrat gelang es, die Stadtverwaltung in der Weimarer Zeit zu modernisieren, um den drängenden Problemen wie Verelendung, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot begegnen zu können. Gegen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise war die Stadt freilich nicht gefeit.
Die NSDAP hatte ihre Parteiorganisation in der gesamten Provinz Sachsen bereits vor ihrem politischen Erdrutschsieg bei der Reichstagswahl von 1930 ausgebaut, aber Halle war die einzige großstädtische Hochburg der Rechtsradikalen. Ihr bestes Ergebnis erzielten sie in der Stadt bei der Landtagswahl 1932, danach hatten sie jedoch überdurchschnittliche Verluste.
Die Machtübernahme 1933 erlebten die Nationalsozialisten also in einer schwierigen Situation, doch wie überall im Reich stießen sie auf nur wenig Widerstand gegen die Errichtung ihrer Herrschaft. Selbstbetrug der Bürgerlichen und brutale Verfolgung der Linken bestimmten diese Phase. Während die Sozialdemokraten nahezu lautlos untergingen, bemühte sich lediglich die KPD, ihrer radikalen Rhetorik folgend, organisierten Widerstand zu leisten. Das war mutig und kostete Opfer, aber die Partei konnte aber kaum Wirkung erzielen, da immer wieder ihr Aufbau zerstört wurde. 1935 war sie schließlich am Ende.
Verfolgung und Widerstand stehen als Leitthema über den letzten Kapiteln: Kirchenkampf, Erbgesundheitspolitik (insbesondere an der Universität), Judenverfolgung und Terror im Krieg.
Die Studie zeigt wie bedeutsam und wirkungsmächtig die Ereignisse der Novemberrevolution und der nachfolgenden Krisenjahre der jungen ersten deutschen Republik waren. In Halle, der roten Hochburg, wuchs frühzeitig der radikale Gegenpol, so dass sich zwei unversöhnliche Lager gegenüberstanden. Am Ende der Republik gab es keine Republikaner mehr.
Es mag dem ursprünglichen Charakter als Beitrag zuzuschreiben sein: leider gibt es kein eigenes (auch wenn es noch so klein gewesen wäre) Quellen- und Literaturverzeichnis für einen schnellen Überblick und die Anmerkungen schließen sich an den Text an, was stets ein lästiges Blättern und Suchen bedeutet. Dafür besitzt das Werk ein Personenregister.
Alles in allem ist dem Buch eine große Leserschaft - auch über Halle hinaus - zu wünschen. Schmuhl hat auf 240 Seiten eine solide, gut lesbare, mithin vorbildliche Forschungsarbeit abgeliefert, die auf lange Zeit das Standardwerk für diese Kapitel der hallischen Stadtgeschichte sein wird und zur Pflichtlektüre für den Geschichtsunterricht an den städtischen Schulen gehören sollte. Später mögen weitere Studien genauere Kenntnisse über einzelne Aspekte liefern, sie alle werden von dieser Untersuchung profitieren.
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