Zwischen Ideologie und Geschäft
Die wissenschaftliche Geschichtsschreibung hat lange gebraucht, um sich mit der Zeit des Nationalsozialismus vor Ort zu beschäftigen. Dies lag einerseits an der oftmals schwierigen Quellenlage, andererseits an den auf dieser Ebene verstärkt auftretenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen sowohl was die Täter als auch die Opfer angeht. In der Pionierstudie von William Sheridan Allen über die "Machtergreifung" im niedersächsischen Northeim waren 1965 noch die meisten handelnden Personen und sogar die Stadt selbst anonymisiert worden. Das zwischen 1973 und 1983 durchgeführte und richtungsweisende Projekt "Bayern in der NS-Zeit" zeigte eindrucksvoll die Möglichkeiten auf, die konkreten Auswirkungen der NS-Herrschaft vor Ort darzustellen. Seit den 1980er Jahren nimmt die Zahl der wissenschaftlichen Regional- und Lokalstudien in erfreulichem Maße zu.
In seiner 2004 an der Universität Heidelberg angenommen Dissertation beschäftigt sich Achim Reimer (Jahrgang 1932) mit der Stadt Baden-Baden. Der zeitliche Rahmen von 1930 bis 1950 ist weiter gesteckt als bei ähnlichen Darstellungen. Wurde früher zumeist die Zeit der "Machtergreifung" bis 1934 oder isoliert die Herrschaft ab 1933 bis 1939 bzw. 1945 untersucht, so wird die Zeit des "Dritten Reiches" heute zu Recht in die jeweilige Lokalgeschichte eingeordnet und offenbart so Kontinuitäten und Brüche. Reimer beschränkt sich andererseits dafür in seiner Studie auf die kommunalen Selbstverwaltungsorgane und die Stadtverwaltung, denn bewusst außen vor bleiben die Bautätigkeit, der Sport, die Rolle der Kirchen und das Vereinswesen. Leider trifft dies aber auch auf die Entwicklung der NSDAP und ihrer Gliederungen zu.
Die Arbeit ist im Großen und Ganzen chronologisch aufgebaut: die letzten Jahre der Weimarer Republik, die "Machtergreifung", die Konsolidierungsphase des Regimes, die "guten Jahre" vor dem Krieg, Kriegszeit, Besatzung und die "Rückkehr zur Normalität". Als Längsschnitte sind die Kapitel zur Judenverfolgung und Entnazifizierung eingeschoben. Die Gewichtung lässt ein eindeutiges Übergewicht auf Seiten der Nachkriegszeit erkennen: die 15 Jahre bis 1945 nehmen etwa die erste Hälfte des Buches ein, die fünf Jahre bis 1950 die zweite Hälfte!
Inhaltlich überprüft Reimer die These von der Sonderstellung der Stadt: Baden-Baden sei ein "Judenbad" und noch im kriegsumtobten Europa eine Idylle gewesen. Und in der Tat hat es einige Sonderentwicklungen der Stadt gegeben, wie Reimer akribisch herausarbeitet. Die Mittelstadt Baden-Baden (1928: 30.000 Einwohner) weist im behandelten Zeitraum mehrere Eigenheiten auf: Mit Erfolg hielt die bürgerlich geprägte Stadt den drohenden Massentourismus durch die KdF (KdF - "Kraft durch Freude", massenwirksamse NS-Organisation zur Freizeitgestaltung) auf Abstand. Die einst mondäne, aber wirtschaftlich angeschlagene Kurstadt hatte sich bereits in der Weimarer Republik um die Wiedereröffnung der seit 1871 geschlossenen Spielbank bemüht. Erst nach dem Machtwechsel wurde dies im Sommer 1933 durch ein maßgeschneidertes Reichsgesetz möglich. So überraschend allein schon die Genehmigung einer solchen exklusiven, nicht gerade auf den einfachen "Volksgenossen" zielenden Einrichtung war, so erstaunlicher ist die von der Stadt durchgesetzte Verpachtung des Spielbetriebes an eine französische Finanzgruppe mit jüdischem Hintergrund. Bis zum Anschluss Österreichs blieb sie die einzige deutsche Spielbank und entwickelte sich rasch zur sprudelnden Einnahmequelle, deren Gewinne sich Kommune und Reich teilten. Dass das Geschäft Vorrang vor der Ideologie hatte, lässt sich an der bis 1938 steigenden Zahl von jüdischen Gästen ablesen. Regelungen zur Einschränkung wurden von den Geschäftsleuten unterlaufen und erst der Kriegsbeginn bedeutete endgültig das Ausbleiben jüdischer Kurgäste. Die Besetzung durch die französische Armee und die Einrichtung der Militärregierung bedeuteten die absolute Ohnmacht für die deutsche Verwaltung und die Einwohner der Stadt. Sie waren lediglich Befehlsempfänger. Die ohnehin rigorose Beschlagnahmepraxis wurde durch die Rolle der Stadt als Sitz der Militärregierung noch verstärkt. Die schlechte Ernährungslage und die Wirren der Entnazifizierung werden von Reimer detailliert geschildert. Französisches Sicherheitsinteresse und wirtschaftliche Ausbeutung besaßen absoluten Vorrang. Kulturell profitierte die Stadt allerdings, auch durch die Einrichtung des Südwestfunks (SWF). Erst mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 und dem Abzug der Militärregierung erhielt die Stadt ihre Handlungsfreiheit wieder zurück. Anfang der 1950er Jahre hatte der Besucher nach Reimers eigener Erinnerung "den Eindruck, als hätte es Nazismus, Krieg und Besatzung nie gegeben" (S. 313).
Die Arbeit liest sich sehr gut und zeigt, dass verständliche Stadtgeschichtsschreibung und Wissenschaftlichkeit sich keineswegs ausschließen müssen. Reimer ist ein durch und durch solides Werk gelungen, das als Grundlage für weitere, speziellere Untersuchungen über die NS-Zeit in Baden-Baden stets heranzuziehen sein wird.
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