Vom Glück der Gänseblümchen – Martin Walsers kostbare Dichtungen
Manches Menschen Sprache lichtet sich im Alter. Auch Martin Walsers Poesie wird leichter, durchlässiger. Er schenkt den lyrisch geformten Gedanken weiten Raum und lässt sie förmlich atmen, schweben, manchmal entschweben. Der religiös musikalische Dichter hat – in allen Farben der Kunst – gemeinsam mit seiner Tochter Alissa Walser, Malerin und Schriftstellerin, ein neues, sehr besonderes poetisches Buch publiziert, entstanden in einer Zeit der Stille, angefüllt mit philosophischen Einblicken, die keiner erhabenen Systematik bedürfen.
Über das "Ungenügen" denkt Walser nach, dass die Welt zu regieren scheint – wir bezeugen dies alle tagtäglich, sofern wir uns nicht eine mediale Askese verordnet haben. Was die Welt umtreibt, befriedigt nicht, macht müde, erschöpft. Walser schaut ins Weite hinaus: "Ich sehne mich und kann nicht sagen, wonach." Der Dichter richtet sich auf den Namenlosen. Oder auf die Namenlose? Der Theologe Paul Tillich sprach – weniger poetisch, verdichtet philosophisch – vom "Gott über Gott". Martin Walser sagt, er suche "Hilfe beim Konjunktiv", ergänzt – "beziehungsweise bei Jesus". Die religiöse Frage bleibt ihm gegenwärtig, das Ringen, das weiter reicht als hin zu einer nichtauszuschließenden Möglichkeit oder einer konjunktivischen Verheißung. Auch eine spröde Begriffsfigur beendet nicht die Denk- und Hoffnungswege. Gewiss, er ist nicht alt geworden, sondern lange schon alt – doch geistig jung –, dieser Martin Walser, der es nicht eilig hat, auch nicht mit der Endlichkeit. Viele seiner Leser werden vielleicht sagen so wie ich tue: Gott sei’s gedankt, dass wir ihn haben, den Dichter, Denker, den sensiblen Poeten, der weiß, dass jemand, der es eilig habe, "ein Narr" sei.
Auch lebenssatt ist Walser nicht:
"Dieses Tages Glanz verlangt,
dass ich ihn feiere.
An meinen Tod zu denken,
dazu komme ich nicht mehr."
Auf dem Sterbebett würde er "eher erröten als erblassen". Auch das mit dem Sterben hat noch Zeit: "Ich kann nicht sagen, dass ich gern sterben würde, aber ich kann sagen: Ich wäre gern tot." Er grübelt über Zwecke, über das zweckmäßige Leben, das "Gift" der "Notwendigkeit", die so machtvoll und bestimmend erscheint. Doch ist sie das? Wer sich dem Notwendigen verschreibt, füllt höchstens noch Formulare aus. Der Poet ist frei, darum schreibt er weiter. Schwebend, verschlungen, dezent und lichtreich sind Martin Walsers Dichtungen und Gedanken verwoben mit den Aquarellen seiner Tochter, die malend verknüpft, was ihm in den Sinn kommt und ihr höchst Eigenes wortlos hinzufügt, so dass der Leser dies anschauen, betrachten und bewundern darf.
Martin Walser rät, den Wörtern zu kündigen, der bleischwer gewordenen Sprache, und nur der Schönheit zu vertrauen: "Wahr ist nur, was schön ist." An Debatten beteiligt er sich nicht, nicht mehr, huldigt aber dem Schönen, schlicht, einfach, präzise. Das Schöne also ist wahr, das Wahre ist schön, etwa der Gesang einer Amsel. Doch wie kündigen wir den Wörtern, den "abgewetzten Wörtern unseres öffentlichen Wortschatzes"? Wir können manche Wörter in Anführungszeichen setzen oder einfach nicht mehr verwenden. Sprache, in der Schönheit aufleuchtet, können wir lieben, auch trauen. An Kaskaden des Geschwätzes erinnert der Dichter, auch an Wortgirlanden einer faden Christlichkeit, denn nicht sei "schamloser als der Gebrauch von Religionswörtern zur Legitimierung politischer Haltung". Wörter können verschlissen anmuten, sie werden dann fade, saturiert, bieder, banal und schal – insbesondere "in einer Medienwelt". Ist das wirklich so? Wer mehr darüber wissen mag, der wende sich – Martin Walser tut es nicht – dem neuen Corona-Slang zu, einer wahrhaft pandemischen Sprachvergiftung, vom "Impfangebot" bis zum "Testregime". Mit einer gewissen Milde schreibt er über die große Politik: "Wahrscheinlich ist nichts schwerer, als Macht zu haben und doch glaubwürdig zu bleiben. Nichts scheint einander so auszuschließen wie Politik und Glaubwürdigkeit." Er sagt nicht: Es ist so! – sondern bleibt vorsichtig: Es scheint so zu sein. Auch Medizinisches wird notiert, die Prosa des Daseins:
"Zuerst zieht man sich Krankheiten zu,
dann zieht man Ärzte hinzu,
dann schickt man die Ärzte wieder weg,
um mit den Krankheiten
allein zu sein."
Wir müssen uns das nicht ausmalen, auch nicht darüber reden. Martin Walser beschreibt einen Zirkel, beobachtet, notiert. Statt zu beurteilen und zu bewerten bleibt er zurückhaltend, der Schönheit zugetan, misstrauisch gegenüber den Strukturen der Ordnungen dieser Welt. Wieder ein fast religiöser Gedanke scheint auf, wenn er über die Lilien auf dem Feld sinniert. In dem Gedicht kommen sie, anders als in der Bibel, ohne den himmlischen Vater aus, der sie nährt trotz ihrer Nutzlosigkeit. Walsers Lilien ist ein geheimer Wunsch eigen:
"Jede Lilie tut, als gäbe es nur sie.
Jede Lilie ist so schön wie keine andere.
Jede Lilie weiß aber, was es heißt,
beherrscht zu werden von der Sehnsucht,
so glücklich zu sein, wie es anscheinend
nur die Gänseblümchen sind."
Eine akademische Frage wäre, ob Martin Walser an seinem Alterswerk arbeitet. Der 94-Jährige schreibt einfach weiter. Sein Blick geht auch nicht melancholisch nach innen. Er bleibt offen für die Schönheit der Welt und manche ungeklärte Frage, von der er nicht lassen mag und nicht lassen muss. Dieses neue Buch zeigt auch, wie Vater und Tochter kunstvoll im Gespräch sind, auf welche Weise und wie gelungen, das mag ein jeder für sich lesend und schauend selbst erkunden. Martin Walser sagt, er wolle "bis zum letzten Abend leben". Seine dankbaren Leser wünschen ihm dies von Herzen – und sie wünschen sich weiterhin so wunderbare Bücher wie das nun vorliegende. Behutsam, gewissermaßen zart empirisch lehrt Martin Walser uns auf neue Weise hinauszuschauen, in die nahe Weite dieser unbegreiflich schönen, lichtreichen Welt.
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