Zeit für Wunder
Prosa und Poesie können einander befruchten, wenn in absichtslos anmutender Frische die Farben des Alltags wie neu koloriert wirken, Perspektiven lyrisch geformt und dichterisch verfremdet werden. Ausgesprochen rätselhaft und zugleich lebensnah mutet an, was der Lyriker Matthias Göritz zueinander fügt, der sich jeder Konvention entzieht und dem poetischen Eigensinn weiten Raum schenkt. Öffnet er damit neue Horizonte für poetische Erfahrungen inmitten der Prosa des Daseins? Oder spielt der Dichter nur mit der Sprache? Seine Gedichte bergen Rätsel und Geheimnisse.
Vom Alltäglichen denkend würde wohl kaum ein Leser einen "Schrei in den Blüten" der Blumen erkennen, die "Vertiefung des Leids", die sich in den Farben abzeichne. Es bleibe ein "Hauch von Schuld" in der Vase. Die Anspielung auf die Schnittblumen, denen also Gewalt angetan wurde, um Freude zu schenken, ist eindeutig. Die Blumen stehen bei Göritz auch für den "Abgrund", der hinter dem vordergründig Schönen verborgen ist. Er zieht den Leser nach der eher schlichten Betrachtung über die Blumen in eine andere Tiefe hinein: "Du bist so schön nackt / An diesem Tag" Eine Feststellung, nicht mehr, vielleicht eine liebevolle Äußerung? Es könnte auch der Verweis auf das Wesen Mensch sein, das sich verzieren, attraktiv kleiden und auch kostümieren, nach außen glänzen, leuchten und strahlen kann. Doch die nüchterne Bemerkung folgt sogleich. Was geschieht – an diesem Tag? "wirst du blind". Ausgeliefert also ist der Mensch in seiner Verletzlichkeit, verwundbar, nackt und bloß, dem ausgeliefert, worauf er zugeht, ohne es zu wissen oder wissen zu können.
Von "brennenden Affen" in der Neujahrsnacht im Krefelder Zoo berichtet ein Gedicht, vom Tod von Orang-Utans und Schimpansen – und endet mit der profanen Meldung, der Tierpark bleibe "bis Mittwoch geschlossen". Göritz beschreibt auch nächtliche Zweisamkeit, wie der eine Körper "geduldig am andern" liege, und durchbricht dann die leise Vertrautheit fast mit einem Appell: "Zeig deine Wunde, zeig mir / dein Reißen, zeig mir die Zähne / zeig mir den Schmerz". Dass Liebende einander ganz sehen, manchmal auch mehr, als sie sehen möchten, wird niemanden verwundern. Der Dichter möchte die eingeübten Sichtweisen aufbrechen und zeigt, dass die Intimität, in der Menschen einander begegnen, mehr als eine Dimension hat. Auch hier wieder scheint auf, was in dem anderen Gedicht gesagt ist – was bedeutet es eigentlich, nackt zu sein, sich zu entblößen, sich aus aller Kontrolliertheit und den Schutzräumen des Ich hinauszubegeben? Sich einander ganz zu zeigen, auch in der Versehrtheit, daran denkt dieses leidenschaftliche lyrische Ich – und hat den inneren Wunsch, das andere Ich wirklich ganz zu sehen.
Manche Gedichte, die Matthias Göritz vorlegt, bleiben geheimnisvoll. Vielleicht geben sie ihr Geheimnis auch nicht jedem Leser preis. Er schildert Erfahrungen und Eindrücke anschaulich, manches verfremdet. So entspinnen sich Gedanken und Fantasien, lyrische Gewebe, die nach vielen Rätseln mit klaren poetischen Worten enden:
"Wir beide sind auf dem Weg
ins Gedicht
Wir beide sind auf dem Weg
heraus aus dem Gedicht"
Dies mutet an wie eine nüchterne Beschreibung, ein gewissermaßen klangvoller Ausgang. Manche bleiben wie im Gedicht verschlossen, formen sich quasi lyrisch, entwickeln sich, drücken sich aus und gewinnen Gestalt in Wörtern und Versen, allein und miteinander. Sie begeben sich in die Sphäre der Poesie, erkunden sich und einander – und verlassen die Dichtungen, um in die Prosa des Daseins und des Alltags zurückzukehren. Von solchen Lebensfaden berichtet Matthias Göritz, ebenso vom "Perfekt der Träume", von der Vergänglichkeit und vom endgültigen Abschied, der nur angedeutet bleibt und zugleich hinreichend deutlich benannt ist, denn allen Lesern vertraut ist die innere Erfahrung, "dass es Zeit wird / für Wunder". In diesem Gedichtband von Matthias Göritz lösen sich nicht alle Rätsel des Lebens und der Poesie auf. Doch das Buch birgt eine Reihe lyrischer Momente, die nachklingen und nachdenklich machen.
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