Bella Italia ohne Sehnsucht
Zwei alte und zugleich ältere Freunde – Robert und Bernd – treffen sich in einer Wanderhütte im Pfälzer Wald und beschließen nach reichlichem Weinschorle-Genuss, gemeinsam über die Alpen nach Italien zu wandern. Bis nach Sizilien. Sie kennen sich seit langem aus gemeinsamen Zeiten in Mannheim und bewegen sich im sechsten Lebensjahrzehnt. Robert befindet sich als Schriftsteller in einer Schaffens- und Beziehungskrise, sein Freund Bernd will als Rentner das eintönige berufliche Leben als Programmierer hinter sich lassen.
Ideengeber für den Wanderplan ist Gottfried Seumes Italien-Klassiker "Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802". Doch nicht nur dafür, sondern auch für den Titel, den der Autor Bernd Leibowitz seinem Roman gibt. Er lautet: Spaziergang von Neustadt-Böbig nach Syrakus im Jahr 2017. Böbig heißt die Bahnhaltestelle in Neustadt an der Weinstraße. Die große Reise beginnt mit einer entspannten Bahnfahrt. Doch bald folgen die ersten Wanderungen und – äußerst schmerzhafte Blasen an den Füßen. "Von Blasen spricht Seume nie", heißt es lakonisch im Roman.
Robert gibt den Anstoß zu der Wanderung. Er ist von Isolde, einer international gefeierten Pianistin, schon länger geschieden, hat aber die Trennung von seiner "ganz großen Liebe" nicht überwunden. Als junger Romanautor hatte Robert Erfolg, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist von ihm begeistert. Doch seit der Trennung fällt ihm das Schreiben schwer. Es gelinge ihm nicht mehr, " an seine früheren Erfolge anzuknüpfen", monologisiert Robert in der Pfälzer Hütte. Für die "Kiste" seien er und sein Freund noch zu jung, "da müsse noch etwas kommen, etwas Außergewöhnliches." Sein größter Traum sei, "den ganzen Stiefel zu Fuß zu durchqueren".
Neue Perspektiven könnte auch Ich-Erzähler Bernd nach seinem beruflichen Ausstieg "gut gebrauchen", so dass ihm Roberts Idee auf Anhieb gefällt. Sein Leben, so Bernd, habe zuletzt zu großen Teilen aus "antiquierten Programmiersprachen" bestanden. Zudem wäre eine solche Wanderung gut für seine Gesundheit, da er mit Übergewicht und Bluthochdruck zu tun habe. Robert und Bernd malen sich aus, wie eindrucksvoll und erfrischend sich diese Italien-Reise auf ihr weiteres Leben auswirken könnte – eine Anspielung auf die "Italienische Reise" von Goethe? Die Reise erfüllt die Wunschvorstellungen der beiden Wanderer dann allerdings nur selten und endet schließlich mit Ernüchterung, ja traurig. Dagegen stimmt das Romanende eher zuversichtlich, auch wenn es kein Happy End gibt. Es erinnert vielmehr daran, wie nah Tod und Geburt beieinanderliegen.
Bernd Leibowitz changiert in seinem Roman zwischen einer fiktiven Erzählung und einem Reisebericht. Beide Darstellungsformen sind miteinander verwoben, so dass die fiktive Handlung als eine Art elegante Verpackung für einen Wanderbericht angesehen werden kann. Immer wieder tauchen inhaltliche und sprachliche Hinweise auf, die erkennen lassen, in welchem Modus sich der Erzähler gerade aufhält – im Reiseberichtsmodus oder im Fiktionsmodus. Die gewählte Erzählform birgt aber auch ein – vielleicht beabsichtigtes – Verwirrungsrisiko, denn während der Leser bei einer fiktiven Erzählung ein mehr oder weniger fortlaufendes oder miteinander verbundenes Aktionsgerüst – einen Plot – erwartet, beinhalten Reiseberichte üblicherweise vor allem Beschreibungen von Landschaften und Städten oder Kommentierungen von Eindrücken, meistens verbunden mit nützlichen Tipps und Ratschlägen.
Doch diese Erwartungshaltung will der Roman gerade nicht erfüllen, vielmehr spielt er mit ihr – zum Beispiel indem er auch mal ironisch auf bekannte Reiseführer verweist. Leibowitz verwendet noch eine weitere Erzählform, die in der Literaturgeschichte – beispielsweise in Goethes "Italienischer Reise" – ebenfalls eine große Tradition hat: den Brief. Im Roman von Leibowitz ist es ein einziger langer Liebesbrief, den Robert aus der Berghütte "Giovanni Mariotti" am Heiligen See von Parma an Isolde schreibt. Dass es auch eine Art Abschiedsbrief ist, wird erst am Ende des Buches klar.
Leibowitz weckt in seinem Roman nicht die Sehnsucht nach dem klassischen Erleuchtungs- und Selbstfindungsland Italien wie etwa zu Goethes oder Seumes Zeiten. Er will uns außerdem nicht beglücken mit schwärmerischen Einlassungen über die kulturelle und landschaftliche Schönheit von Bel paese. Aber er zerkratzt auch nicht dieses Bild, wie es Rolf Dieter Brinkmann in seiner Buch-Collage "Rom, Blicke" so wild, so frech und so unnachahmlich getan hat. Leibowitz hebt sich wohltuend davon ab, seine lesenswerte Romangeschichte durchströmt eine menschenfreundliche Haltung. Sein Spaziergang durch Italien ist zugleich ein Spaziergang durch das Leben zweier Männer, die freundschaftlich miteinander verbunden sind. Insofern ist das Buch von Leibowitz vor allem ein Roman über etwas, das zu den angenehmsten, schönsten und wichtigsten Facetten des Lebens gehört: über die Freundschaft.
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