Spatriati
"Der einzige Ort auf der Welt, an dem ich es mir erlauben kann, unversöhnlich zu sein, ist der, an dem ich geboren wurde, findest du nicht?", fragt Claudia den Erzähler der Geschichte, Francesco. Beide stammen aus Martina Franca, Apulien und versuchen auf unterschiedliche Weise ihrer Herkunft zu entkommen.
Heimatlos in Berlin und London
Der Titel "spatriati" könnte auch mit "entwurzelt" übersetzt werden. Das "s" im Italienischen ist oft als Verneinung gedacht, so könnte man das Wort "patria" (Vaterland) darin entziffern, das durch das "s" verneint wird. Als "Spatriati" werden im Apulischen nämlich alle jene bezeichnet, die ziellos umherirrend, unterbrochen, spinnert, ungelöst, ausgeschlossen, verteilt, verstreut, unbestimmt sind, wie der Autor im zweiten Teil hilfreich ergänzt. Auch ein Schlaf kann spatriato sein, unterbrochen, aber auch ein Traum. Gerade ein unterbrochener Schlaf lässt sich einen besser an die Träume erinnern. Einen solchen Traum träumt auch der junge Francesco, der sich in die gleichaltrige Claudia verliebt. Sie hat leuchtend rotes Haar, mondweiße Haut und ist alles andere als eine Schlaftablette. "Man rief sie Mohnblume, uns sie lachte darüber, im Frühling färbte der Mohn die weiten grünenden Felder im Süden rot, sie standen für den Beginn der Ferien, Sommer, unsere Jugend", beschreibt Francesco Claudia findet er die schönsten Bilder. "Das kurze Rauschen, bevor die Musik eine 33er-LP erklang, war für sie das reinste Glück". Solche Dinge sagt man nur über Mennschen, die man wirklich liebt und Mario Desiati gibt seinem Protagonisten eine Sprache der Liebe, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Ein Roman wie ein Gedicht, könnte man sagen. Ein Gedicht über die Unendlichkeit der Liebe, aber auch über deren Unmöglichkeit.
ICH=ein Anderer
Ihr Vater liebt seine Mutter und so sind die beiden zumindest auf diese Weise verbunden. Denn Francesco liebt zwar Claudia, aber Claudia liebt immer wen anderen. Am meisten wohl sich selbst. Erst zieht sie nach London, dann nach Mailand, dann nach Berlin. Francesco ist in Gedanken immer bei ihr, sie behandelt ihn wie einen kleinen Bruder, dem sie alles erzählt. Francesco wird zur Vertrauensperson, er akzeptiert die Rolle der "schwarzen Traube", die für Negroamaro oder Primitivo verwendet werden, "Weine, die einem den Verstand vernebeln", wie er sagt. Aber im Verlauf dieses außergewöhnlichen Romans, der auch den Premio Strega 2022 gewann, begreift Francesco, dass niemand einem verbieten kann, derjenige zu sein, der man sein will. Aber bis dorthin setzt ihn sein Schöpfer einer Odyssee aus, die ihn auf der Suche nach Claudia sich selbst finden lässt. "Wir waren zu jung, um zu verstehen, dass Weitsicht und Kaltblütigkeit keine Chance haben, wenn die Leidenschaften rasen oder man so enttäuscht und wütend ist, dass man all das in Brand setzen will, was man an sich selbst nicht ausstehen kann." Manchmal dauert das "coming of age" so lange, dass die Eltern erst sterben müssen, bevor man begreift, wer man wirklich ist. Oder sein will. Ein Leben lang. Was ihn und Claudia verbindet, ist "complicità", ein Begriff der nur schwerlich mit Komplizenschaft übersetzt werden kann, da er im Italienischen eine viel tiefergehende Bedeutung hat. Als Claudia ihm auf einer Technoparty in Berlin den Georgier Andria vorstellt, ist es genau diese complicità, die sie alle drei den Zenit der Liebe erreichen lässt.
Eine Liebe frei von Besitzdenken, aber voller Zuneigung und Zärtlichkeit: "Aber in mir, da hatte Claudia recht, war ein Ehrgeiz, ein Keim: Ich bin nicht, was ich zu sein scheine, ich kann besser sein, ich kann über mich hinauswachsen, ich kann aufhören, allen etwas vorzumachen." Mario Desiati, geboren 1977 in Locorotondo (Apulien), lebt in Rom, Berlin und seinem Heimatort Martina Franca, wo auch "Spatriati" spielt. Er war Verlagslektor und hat Gedichte, Erzählungen und mehrere Romane veröffentlicht. Für "Spatriati" erhielt er 2022 den renommiertesten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega.
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