Wissen und Täuschungen
An einem Tag im Herbst 2008 steht ein braunhäutiger, ausgemergelter Mann mit einem struppigen Bart vor der Haustür eines Londoner Bankers, der in ihm einen Jugendfreund erkennt, ihn bei sich aufnimmt und sich zu seinem Chronisten erklärt, wohl wissend, dass eine Geschichte, die man über einen anderen erzählt, auch immer eine über einen selber ist.
"Wie müssen alles, was wir verstehen wollen, vereinfachen und reduzieren, und, was ganz wichtig ist, wir müssen die Erwartung aufgeben, alles verstehen zu können, um wenigstens den Weg zu einem teilweisen Verständnis freizuräumen. Und ich glaube, dass das für alles menschliche Forschen gilt", führt Zafar, der Jugendfreund des Bankers, dessen Karriere angesichts der Finanzkrise auf Eis liegt und dessen Frau ihn verlassen hat, aus und illustriert das am Beispiel der Kartografie und des Übersetzens von Lyrik. "Beide, Kartograf wie Übersetzer, sind mit dem gleichen Problem konfrontiert, dass sie nämlich nicht alles exakt einfangen können und manche Dinge aufgeben müssen, um überhaupt etwas zu retten." Genial! Auf die Idee, Kartografie und Lyrik überzeugend in einen Zusammenhang zu bringen, wäre ich selber wohl nie gekommen.
Derart viel und ganz unterschiedliches Wissen (von der Peters-Projektion, einer Weltkarte, in der die Gebiete der Landmassen im korrekten Grössenverhältnis dargestellt werden, bis zum Autor, der das schreibende Selbst eines anderen Autors verändern kann) habe ich so gehäuft noch in keinem Buch gefunden. Selten hat mich eine Lektüre so fasziniert, überwältigt und bereichert.
"Zu wissen, wie sich die Dinge verhalten, bedeutet nicht, dass man sie richtig sieht, es bringt einen nicht davon ab, die Dinge falsch zu sehen", erläutert Zafar anhand der Poggendorf-Täuschung, einer der zahllosen optischen Täuschungen, die wir zwar verstehen können, von denen wir aber trotz unseres Wissens getäuscht werden.
"Musst du an die Evolution glauben, wenn du den Kreationismus ablehnst?
Folgt das nicht daraus? Was wäre die Alternative?
Warum nicht einfach an nichts glauben?. Warum muss man unbedingt an etwas glauben?"
"Soweit wir wissen" setzt sich mit so ziemlich Allem auseinander. Von der Mathematik ("Die Mathematik schert sich nicht um Autorität, sie schert sich nicht darum, wer du bist oder woher du kommst, oder um deine Augenfarbe, oder mit wem du zu Abend isst.") bis zur englischen Klassengesellschaft (wo nur Status und Beziehungen zählen).
Obwohl Zafar an renommierten Unis studiert hatte, in die sogenannt' bessere (snobistische) englische Gesellschaft, wird er nicht aufgenommen. Und auch in Asien gehört er nicht mehr dazu. "Wissen Sie, was ich in Oxford studiert habe?", wird er in Kabul von einem afghanischen Colonel gefragt, der ihn als Engländer wahrnimmt. "Geschichte. Aber wessen verdammte Geschichte? Natürlich ihre Geschichte."
Die Geschichte spielt unter anderem in Bangladesch, Grossbritannien, den USA und Afghanistan. Letzteres schildert der im ländlichen Bangladesch geborene und in London aufgewachsene Zia Haider Rahman derart faszinierend, dass ich sofort eine unwiderstehliche Sehnsucht nach diesem Land verspürte.
"Soweit wir wissen" ist ein scharfsinniger Blick auf die soziale Realität ("In England bestand der Ursprung wahrer, rechtgeleiteter Macht, der Kern der Autorität, nicht etwa in Bildung, sondern im Anschein von Wissen, wobei man demonstrative Ignoranz alles Gewöhnlichen bekundet."; "Ironischerweise sind sich Wissenschaftler aber dessen, was sie sagen, viel weniger sicher als Politiker, politische Entscheidungsträger und Experten."), eine ungewöhnliche, zum Nachdenken animierende Auseinandersetzung mit Religion ("Ich glaubte, die Antwort des Islam auf das Streben nach Sinn bestehe nicht darin, Fragen zu beantworten, sondern darin, Menschen zu drillen, die Sinnsuche zugunsten von Ritual und Gewohnheit aufzugeben."; "die wunderbare Feststellung, auf der das Christentum basiert, ist die, dass die grösste Liebe nicht erkämpft oder verdient werden kann. Das ist keine ethische Norm, sondern eine empirische Beobachtung, ein wissenschaftlich überprüfbarer Lehrsatz, und auf diesem Fels wurde eine ganze Religion erbaut, eine prächtige Kathedrale der Hoffnung."), eine aussergewöhnliche, anregende und brillante Meditation über Grundfragen des Lebens.
"Soweit wir wissen", ein sehr gescheites, sehr sensibles Buch, lotet die Grenzen unseres Wissens und Wissen-Könnens aus. Aufregend, spannend, hervorragend erzählt - ein Meisterwerk!
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