Eliana Alves Cruz: Solitária

Reichtum und Elend zugleich

Eunice arbeitet als Mädchen für alles bei einer sehr reichen Familie im Penthouse einer noblen Apartmentanlage in einer brasilianischen Großstadt. Hier häufen sich die tragischen Ereignisse; den Anfang und das Ende der Geschichte – und damit eine Art Klammer – bildet jeweils der Unfall eines Kindes, dessen Ursache die Achtlosigkeit und Vergnügungssucht der reichen Leute ist.

Zuerst wäre während einer Party beinahe der kleine Neffe der Hausherrin, Bruno, ertrunken, worauf die 13-jährige Babysitterin ins Elend entlassen wird. Jahre später zerschlägt der vom Sauerstoffmangel behinderte Bruno in Rage, jedoch unabsichtlich, die sündhaft teure, antike chinesische Porzellanvase, den Augapfel der Herrschaften. Eunice soll gekündigt werden, weil sie ihr kleines Töchterchen Mabel zur Arbeit mitbringt, doch als die Hausherrin erfährt, dass sie nach vielen erfolglosen Versuchen endlich selbst das lange ersehnte Kind erwartet, holt sie Eunice zurück, da sie sonst niemanden hätte, dem sie das Baby anvertrauen könnte, das sich später zu einer verwöhnten, nichtsnutzen Furie mausert. Jahre danach ermöglicht dieselbe Hausherrin der gerade 14-jährigen Mabel, die nach einem kurzen, aber leidenschaftlichen Liebesabenteuer mit João, einem Sohn des Portiers, sofort schwanger wird, eine Abtreibung und hilft ihr dadurch indirekt, ihre hoch fliegenden Zukunftspläne – ein Medizinstudium – weiterzuverfolgen. Die Schwangerschaft und den Abbruch verheimlicht Mabel ihrer Mutter, da sie deren Einstellungen kennt – Abtreibung ist Mord. Erst später erfährt der Leser, dass die Mutter praktisch Analphabetin ist, weil sie einst ebenfalls mit 14 schwanger wurde, es zu einer Fehlgeburt kam und die eigene Mutter sie anschließend so streng bewachte, dass die Schulbildung dabei auf der Strecke blieb.

Nachdem Mabel und Cacau, der zweite Sohn des Portiers, die Zulassung zur Uni in der Tasche haben, beginnt die Rebellion der jungen Leute gegen die Ausbeutung der Bediensteten in dem vornehmen Haus: João, der den Schwangerschaftsabbruch Mabels als Zeichen dieses Unrechts sieht, zeigt eine reiche Hausbewohnerin an, die ihr Dienstmädchen wie eine Sklavin hält. Als die Polizei die Wohnung durchsucht, stellt sich heraus, dass die 40-jährige, extrem schüchterne Frau, die sich niemals an den Geselligkeiten der anderen Bediensteten beteiligt, seit ihrem zehnten Lebensjahr in dem Haushalt dient und lebt – auch für die gutmütige Eunice, die ihrer Arbeit als Dienstmädchen gerade ein Ende gesetzt hat, ein Schock, eine Szene wie aus einem Horrorfilm.

Als trauriger Kulminationspunkt des Romans stürzt bei einem Fest für die Tochter des Hauses das vierjährige Söhnchen des neuen Dienstmädchens aus dem Elternschlafzimmerfenster des zehnstöckigen Hauses. Eunice, die der Neuen die Zubereitung des geliebten Bohneneintopfes beibringen soll und deshalb für diesen Tag anwesend ist, wird unter Druck gesetzt, der eilig herbeigerufenen Feuerwehr und Polizei eine Lüge aufzutischen, um die Tochter zu decken, nämlich dass die tatsächlich abwesende Hausherrin daheim gewesen sei. Ihre beklommene Aussage in der Küche wirkt unglaubwürdig. Eunice will trotz des Drucks ihrer Tochter nicht gegen ihre frühere Chefin aussagen, da sie sich nach den langen Dienstjahren, in denen sie die Tochter des Hauses großzog, beinahe als Teil der Familie sieht, auch wenn sie die Heuchelei inzwischen durchschaut. Doch als sie viel später noch einmal auf die Polizeiwache vorgeladen wird, ist ihr die ganze Verlogenheit und Skrupellosigkeit der "Herrschaften" bewusst geworden und sie findet den Mut, die Wahrheit über den Unglücksabend zu erzählen.

Gegen Ende behandelt Mabel als frisch gebackene Ärztin im Krankenhaus Bruno, der zur Zeit, als es noch keine Impfstoffe gab, schwer an Corona erkrankte. Seine achtlose Mutter, die trotz der fragilen Gesundheit ihres Sohnes die Maske verweigerte, hatte ihn angesteckt. Hier spannt sich der Bogen zum Anfang, und der Leser erkennt, was all die Ereignisse in dem vornehmen Haus gemeinsam haben: die Verantwortungslosigkeit.

Eliana Alves Cruz prangert in ihrem vierten Roman, der vorerst nur auf Portugiesisch erhältlich ist, 2025 jedoch auf Englisch erscheinen soll, den verantwortungslosen Lebensstil der Reichen und die Rechtlosigkeit der Armen in Brasilien an. Dass sich in einem vornehmen Haus innerhalb von nur zwanzig Jahren derart viele Katastrophen ereignen, wirkt nicht konstruiert oder gewollt, sondern als systemimmanente Folge dieser Ungerechtigkeit.

In einfacher Sprache und nach einem Rücksprung in die Vergangenheit, mit weitgehend linearem Erzählstrang, jedoch mit zwei Perspektivwechseln, erzählt die Autorin eine beeindruckende Geschichte, die zu Herzen geht und den Leser nachdenklich macht.

Solitária
Solitária
168 Seiten, broschiert
EAN 978-6559212347

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Eine berührende, zarte Geschichte über das plötzliche Verschwinden eines liebgewonnenen Menschen.

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Möglichst vielen (realsatireoffenen) Leserinnen und Lesern zur Lektüre empfohlen.

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