Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

Ein langer Abschied von der Welt

Erinnerungen bleiben präsenter als die unmittelbare Gegenwart. Gesichter werden unscharf. Die Welt scheint wie in einem Nebel, der sich nicht mehr lichten wird, versunken zu sein. Julie Otsuka erzählt von der demenzkranken Alice, einer pensionierten Labortechnikerin die allmählich ihr Gedächtnis verliert, beobachtet und begleitet von ihrer Tochter.

Alice vergisst zunehmend, etwa wo sie im Schwimmbad ihr Handtuch abgelegt hat. Auch die Nummer ihres Schließfachs entschwindet. Im Wasser ist sie noch wie früher, sie selbst, und sie gleitet dahin, mit kräftigem Beinschlag und in geistiger Frische. Schwimmend, das geht allen so, werde der „Lärm in unseren Köpfen“ leiser. Jegliches Grübeln bleibt außen vor. Die Welt ringsum darf vergessen werden, sie hat es so oft verdient. Ein Schwimmer, der unregelmäßig kommt, leidet an Parkinson. Er sagt: „Wenn ich hier bin, wisst ihr, dass ich einen guten Tag habe.“ Die Schönheit des Schwimmens, die beglückenden Momente einer Schwerelosigkeit beschreibt Otsuka feinfühlig und fast emphatisch: „Der Schock des Wassers – es gibt nichts Vergleichbares an Land. Das kühle, klare Nass, das über jeden Zentimeter deiner Haut fließt. Das zeitweilige Aussetzen der Schwerkraft. Das Wunder deines eigenen Auftriebs, wenn du ungehindert über die glänzend blaue Oberfläche des Schwimmbeckens gleitest. Das ist wie Fliegen. Die reine Freude darüber, in Bewegung zu sein. Die Auflösung aller Wünsche. Ich bin frei. Plötzlich bist du erhoben. Erhaben. Ekstatisch. Euphorisch.“ Eingezeichnet in den Körper bleibt die Erdenschwere, die Chemotherapie etwa oder die Gelenkbeschwerden. Die Ratlosigkeit tritt hinzu, das Suchen. Alice fragt sich, wo der Badeanzug geblieben ist. Sie weiß es nicht immer, und mehr und mehr wird die Welt zu einem Rätsel. Das Vergessen setzt ein, greift um sich, wird auf gewisse Weise machtvoll: „In unserem wirklichen Leben, auf dem Festland, sind wir zerstreuter als sonst. Wir verlegen unsere Schlüssel. Wir vergessen, Rechnungen zu bezahlen. Wir können uns nicht an unsere Passwörter erinnern. Wir vergessen, uns zu kämmen. Wir kommen zu spät ins Büro. Wir können uns nicht auf unsere Arbeit konzentrieren. Manchmal stehen wir mitten in einem Gespräch auf und gehen raus.“ Julie Otsuka beschreibt diese Momentaufnahmen, in einer kargen und zugleich zarten Sprache. Sie deutet an, sie deutet nicht aus, und weiß zugleich, dass mit wenigen Worten alles Wesentliche gesagt sein kann.

Alice weiß noch, wie sie heißt. Sie kennt den Namen des Präsidenten, aber nicht mehr an den Namen ihres Ex-Mannes. Oder verweigert sie die Erinnerung an ihn? Das Kurzzeitgedächtnis lässt nach, manchmal in einer großen Dynamik: „Sie weiß nicht mehr, woher sie die blauen Flecken auf ihren Armen hat oder dass sie heute früh mit dir spazieren war. Sie weiß nicht mehr, wie sie sich während dieses Spaziergangs gebückt und eine Blume aus dem Vorgarten des Nachbarn gepflückt hat, die sie sich anschließend ins Haar schob.“ Alice vergisst auch genug zu trinken. Kraftvoll kann sie die Tochter zum Abschied umarmen, aber sie weiß, dass „irgendwas“ sich verändert hat. Doch was genau, das vermag sie nicht zu sagen.

Der Umzug in ein Pflegeheim ist unvermeidlich. Die Einrichtung hat ihre eigenen Gesetze, so gibt es dort etwa Räume, die nicht betreten werden dürfen, etwa der Pausenraum für die Pflegekräfte und der Medikamentenraum. Die Tage verstreichen, manchmal gibt es ein Kulturprogramm, für Vereinsamte, für Menschen, bei denen sich gewissermaßen die Farben von Zeit und Raum verändern und die trotzdem noch einmal nach Hause zurückkehren möchten. Mit ernstem Realismus beschreibt Julie Otsuka, wie die Demenz voranschreitet: „Mit der Zeit wird Ihr Blick stumpf werden, glasig, starr, leer und dann, schließlich, ausdruckslos. Ihre Knochen werden dünn werden, Ihre Haare brüchig. Ihre Zähne, sofern Sie noch welche haben, werden erst gelb werden, dann braun.“ Eines Tages wird wieder – hier und da auf den langen Fluren – über Nacht ein Zimmer frei werden, dann, wenn eine Reise zu Ende gegangen ist.

Welches mögen die Ursachen für Demenz sein? Lag es an Chemikalien beim Färben der Haare, am Insektenspray oder am aluminiumhaltigen Deo? „Hätte sie mehr Blaubeeren essen sollen? Weniger Butter? Hätte sie mehr Bücher lesen sollen?“ Es gibt so viele Fragen, auf die es keine Antwort gibt – und die Suche nach den Gründen geht ins Leere. Otsuka schreibt: „Du triffst sie im Aufenthaltsraum an, wo sie schweigend am Fenster zur Straße sitzt und die Kinder beobachtet, die von der Schule nach Hause kommen. Ihre Hände liegen ordentlich gefaltet, wie zwei Vögel, in der leichten Vertiefung ihres Schoßes. Ihre Nägel sind sauber. Ihre Haare liegen flach am Kopf. Sie wirkt ruhig, vielleicht auch sediert. Doch sobald sie dich sieht, ist sie so aufgeregt, dass sie fast weint.“ Alice möchte noch immer nach Hause. Sie wird einsilbiger, sagt „Ja“, immer wieder. Oft schweigt sie: „Manchmal lehnt sie sich in ihrem Rollstuhl nach vorn und stiert, unverwandt und mit angestrengter Konzentration, nach unten auf ihre Fußspitzen. Sie hat dich bereits vergessen. Heute jedoch, als du dich noch einmal zu ihr umdrehst, ist ihre Hand halb erhoben und winkt dir langsam zum Abschied.“

Julie Otsuka hat einen sehr berührenden Roman vorgelegt, eine Geschichte über den Abschied von der Welt, über die Demenz und ihre Phasen – und über die Liebe zwischen Mutter und Tochter, die bis zum Lebensende andauert.

Solange wir schwimmen
Katja Scholtz (Übersetzung)
Solange wir schwimmen
160 Seiten, gebunden
mareverlag 2023
EAN 978-3866486911

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