Joan Didion: Slouching Towards Bethlehem

Die Träume der anderen

Die vorliegende Essaysammlung vereint Texte, die allesamt vor 1968 in unterschiedlichen Zusammenhängen erschienen sind, genauer gesagt zwischen 1961 und 1968. Die titelgebende Story spielt im San Francisco des Jahres 1967 auf der Haight Ashbury.

Ein Frühling auf der Haight

Der "Frühling großer Hoffnungen und nationaler Versprechungen" veranlasste auch die Autorin, sich in die Stadt an der Golden Gate Bridge zu begeben. Ihr erster Eindruck bezieht sich auf ein Schild auf der Hippiestraße, Haight, worauf sich eine gewisse Marla mit einem Gedicht an ihren gesuchten Lover, Christopher, verewigte. Die Suche nach ihm hat sie vielleicht niemals wirklich aufgegeben, genauso wenig wie Didion die Suche nach Deadeye. Er soll einer ihrer Interviewpartner sein, aber sie trifft auf einen Haufen anderer Freaks, die meisten davon auf irgendeiner Droge, sogar Crystal Meth gab es damals scheinbar schon. Als einer davon herausfindet, dass sie schon 32 Jahre alt ist, tröstet er sie mit den Worten, dass es ja auch "alte Hippies" geben würde. Was als integrative Geste gemeint ist, gibt der Journalistin eine ungefähre Messlatte ihrer Erwartungen vor. Didion begegnet auch Hippie-Prominenz, etwa Arthur Lisch von den Diggers, die es sich damals zur Aufgabe gestellt hatten, freies Essen zu verteilen. Drei "signifikante Informationen" über die "Bewegung" erhält sie auch von Chet Helms: Gott ist tot, 50 % der Bevölkerung sind unter 25 und diese 50 % "hauen 20 Millionen Dollar auf den Kopf, die sie nicht selbst verdient haben". Schonungslos berichtet Joan Didion aus diesem und anderen Biotopen, taucht ein in die Welt von Außenseitern und Wannabees, erzählt vom Leben im Westen und der Orientierung an Träumen anderer. Etwa jenen eines Howard Hughes, der von uns zu einem Helden gemacht wurde, was mehr über uns als über ihn aussagt, so Didion treffend. Es ist eben ein kleiner Unterschied zwischen denen, die wir lieben und denen, die wir heiraten.

Einer dieser Träume ist auch der vom Goldenen Land im ebenso güldenen Westen. So lautet auch der Titel des ersten Teils dieser Kurzgeschichtensammlung, Geschichten aus dem amerikanischen Alltag, meist für Zeitschriften jener Zeit, der Sechziger, als Reportagen verfasst. "Die Zukunft sieht immer gut aus im Goldenen Land, weil sich niemand an die Vergangenheit erinnert", und in diesen Worten Joan Didions liegt schon sehr viel Wahrheit. Denn die Fehler der Vergangenheit werden sehr oft wiederholt, weil sie schlichtweg vergessen wurden, weil darüber nicht Buch geführt wurde, niemand sich Notizen machte, wie Didion. Weil Amerika nicht ein Land ohne Geschichte, sondern ein geschichtsloses Land ist. Dabei ist gerade dies das Wertvolle, die Geschichten, die wir uns am Lagerfeuer erzählen, das schafft Gemeinschaft und Identität und eine Perspektive für die Zukunft. Eine davon ist auch die von John Wayne, im Artikel "John Wayne: ein Liebeslied" in Worte gefasst, die klarmachen, dass auch das nur eine Geschichte ist und nichts mit der Realität zu tun hat. Eine Geschichte, die man sich erzählt, um Trost zu finden im Leben derer, die es scheinbar geschafft haben und dann doch an Krebs erkranken, so wie der Obercowboymacho John. "Die einzige Schießerei, die Wayne verlieren konnte." In einer anderen Geschichte die Erzählung von Joan Baez, die von sich selbst sagte: "Am leichtesten fällt mir eine Beziehung, die ich mit zehntausend Menschen habe. Am schwersten die mit einem." Auch das einfühlsam von Joan Didion erzählt, authentisch und ohne Bewertungen oder Urteile. Einfach nur die Dinge für sich sprechen lassen und sich mit jenen verbinden, "die eher draußen als drinnen" sind.

Triumph des Seins über das Nichts

Sogar mit dem Chef der Kommunistischen Partei der USA, Michael Laski, fühlt sich die Autorin verbunden. "Mit denen, die eher draußen als drinnen, mit Menschen, in denen das Gefühl des Grauens akut ist, dass sie sich extremen und sinnlosen Sachen verpflichtet fühlen", so Didion. Aber selbst dieser begegnet ihr argwöhnisch, hält sie für eine Regierungsagentin, einen Feind. Die Welt des Michael Laski: "ein kleiner, aber gefährlicher Triumph des Seins über das Nichts", bringt sie die Geschichte auf einen gemeinsamen Nenner. Aber Didion ist so schlau, dass sie sogar sich selbst misstraut, wie sie in "Vom Sinn ein Notizbuch zu führen" schreibt. "Wie viel davon ist tatsächlich passiert? Ist es tatsächlich passiert? Warum besitze ich überhaupt ein Notizbuch?", fragt sie sich selbstironisch. "Eines Morgens, wenn die Welt bar aller Wunder erscheint", an so einem "bankrotten Morgen" freut sie sich dann aber schon, wenn sie ein solches Notizbuch aufschlägt. Und der Leser mit ihr. Eine bezahlte Rückfahrt in die Welt da draußen nennt sie es poetisch. Der zweite Teil vorliegender Essaysammlung ist mit "Persönliches" betitelt, es geht es u. a. auch darum, was das Monster im Kopf macht, die Moral und das Nachhausekommen. Der dritte Teil versammelt unter dem Titel "Sieben Innenwelten" Briefe aus dem Paradies, Notizen einer Tochter des Landes, Notizen aus Los Angeles, Das Spiel ist aus. Alle Geschichten von Joan Didion sind eine tiefe Verbundenheit mit ihren Protagonisten eigen und sind so lesenswert, dass man gar nicht genug davon kriegt. Weitere Bücher, also auch Romane und Storys, sind beim Ullstein-Verlag als Taschenbuch und Hardcover in ähnlicher Ausstattung erschienen.

Slouching Towards Bethlehem
Antje Rávik Strubel (Übersetzung)
Slouching Towards Bethlehem
368 Seiten, gebunden
Ullstein 2022

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