Liebesroman einmal anders
Ein aussergewöhnliches Buch erzählt eine aussergewöhnliche Liebesgeschichte. Patrick und Jirka, beide um die dreissig, sitzen sich beim Yoga erstmals gegenüber - "zwei Gestalten, vervielfältigt in den beiden raumhohen und saalbreiten Wandspiegeln, schauten sich an und sahen dahinter sich selbst und dahinter den anderen und nochmals sich selbst und den andern und nochmals, bis sie zerschellten in der Unendlichkeit" - und liegen kurz darauf zusammen im Bett. Was als einmaliger (und dabei alles andere als einmalig, denn: "Der Sex war schnell und leise. Wenn ich ehrlich bin: Jeder machte es sich selbst.") Sex beginnt, entwickelt sich in rasantem Tempo zu einer Liebesbeziehung, welche bald von Jirkas positivem HIV-Befund, der Angst und Wut, Patrick könne sich ebenfalls angesteckt haben, begleitet und überschattet wird.
Auf sehr geschickte Art und Weise werden die wenigen Wochen der Beziehung aus der Perspektive Patricks erzählt und die verschiedenen Erzählstränge im Verlauf des Romans zu einem Ganzen zusammen gefügt. Dabei wechseln sich einfühlsame und zärtliche mit brutalen und kaltblütigen Beschreibungen und Begegnungen ab. Diese Kontraste lassen erschauern und gleichzeitig mitfühlen, sie halten dem Leben einen Spiegel vor. Neben der Liebe zweier Männer und deren Einbettung in die städtische Schwulenszene ist insbesondere der Verlust von Patricks Schwester, der Grossen, zentrales Thema. Allgemein spielen Verluste und Verlassen-werden eine dauerpräsente Rolle in Patricks Leben. Was mit der Trennung der Eltern und dem Wegzug des Vaters beginnt, nimmt mit dem tödlichen Verkehrsunfall der Grossen, welcher in der unmittelbaren Vergangenheit des Romangeschehens passiert, und Mutters angekündigtem Verlassen des Landes, seinen Lauf.
Die familiären Bindungen reissen ab und Patrick klammert sich mit letzter Konsequenz an Jirka. Er sucht das Openhouse, welches Jirka zum Verhängnis geworden ist, ebenfalls auf - lässt sich wie zuvor Jirka unter Drogeneinfluss und seinem zweiten Vornamen Andreas, welchen er mit Jirka teilt, auf dieselbe und äusserst brutale Vergewaltigungsszene ein. Andreas, welcher weder Jirka noch Patrick und doch beide zugleich ist, wird zum Protagonisten einer Episode, die zwar durch den ganzen Roman präsent ist, jedoch erst am Ende erzählt und erst dadurch als etwas tatsächlich Geschehenes wahrgenommen werden kann.
Es ist nicht nur ein schweres, erschütterndes Buch. Neben beinahe kitschigen Szenen - wie wenn Patrick nach dem ersten Sex mit dem Zuckerstreuer ein "Danke" auf den Tisch schreibt - gibt es auch viele lustige Szenen mit Schweizer Lokalkolorit, beispielsweise die Beschreibungen des Zusammenlebens in einem Miethaus. Es fehlt auch nicht an der Anspielung auf die Waschküchenordnung, welche seit Hugo Loetscher und dessen Waschküchenschlüssel zum schweizerischen Literaturstoff dazu gehört. Nur ist sie bei Froehling von dessen Protagonisten mit einer Gegennotiz "eigenmächtig dereguliert" worden.
Dem 1978 geborenen Simon Froehling ist mit "Lange Nächte Tag" ein hervorragendes Romandebüt gelungen. Besonders die Erzählhaltung- und Struktur sind schlicht genial. Eine gewisse Nähe zu Ruth Schweikert, welche den von Froehling 2009 absolvierten Bachelorstudiengang am Literaturinstitut in Biel mit betreut hat, ist durchaus zu erkennen, wirkt jedoch nie störend. Froehling hat bereits als Theaterautor auf sich aufmerksam gemacht und ist dafür schon mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Weitere Auszeichnungen und viel Anerkennung sind ihm für das vorliegende Werk verdienterweise gewiss.
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