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Klaus Bittermann: Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

Ein Autor liest eine Zeitungsmeldung und macht daraus einen Roman

Ein Autor liest eine Zeitungsmeldung, strickt eine Geschichte drumherum und macht einen Roman daraus. Was kann da noch schiefgehen? Nicht viel, wenn die Meldung nicht alltäglich, die Geschichte spannend und der Roman kurzweilig geschrieben ist. All dies ist Klaus Bittermann gelungen, mit seiner Ausreißerballade Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück.

Doch es gibt auch was zu meckern. Zu viele Nebenfiguren tauchen in der Handlung auf. Gut, sie dienen dazu, diese voranzubringen. Das tun aber auch Dialoge, und manchmal wünscht man sich, Bittermann hätte mehr auf dieses Stilmittel gesetzt, das er im übrigen perfekt beherrscht. Alle Handlungsweisen werden in dem Buch erklärt, so dass manches bizarr, aber logisch und in sich schlüssig erscheint. Bei Randfiguren sind solche Erklärungen freilich nicht notwendig, und es müssen auch nicht alle mit vollem Namen benannt werden, zumal diese eh' entweder erfunden sind oder Assoziationen wecken sollen, was wiederum vor allem Punk- und Rockfans, Experten für den Spanischen Bürgerkrieg und Anhänger von (Post-)68er Philosophen und Soziologen jenseits von Marcuse, Adorno und Habermas erfreut.

Obwohl die Handlung manchmal etwas überladen wirkt, trägt sie. Die Geschichte ist einfach zu gut. Hier nochmal die Zeitungsmeldung, die sie befeuert: "Im Südtiroler Sterzing ist ein Gaunerpärchen gefasst worden. Monatelang hatten die 16jährige Nancy W. und ihr 17jähriger Freund Michael S. von Hoteldiebstählen gelebt. [...] Das junge Paar hinterließ in Luxushotels unbezahlte Rechnungen und bestohlene Hotelgäste. Das Mädchen trat betont selbstbewusst auf. Sie trug stets einen teuren Pelzmantel. Im gestohlenen Auto der Festgenommenen wurden Pelzmäntel, Bargeld und Euroschecks im Gesamtwert von 86.000 Mark gefunden".
Michael Schlebrowski, die Hauptfigur im Roman, nennt sich Sid, nach dem Vorbild des Sex Pistols-Bassisten John Simon Ritchie alias Sid Vicious, dessen tragische Liebesgeschichte mit Nancy Spungen den Punk boulevardfähig machte. Der Romantitel spielt auf Magnus Enzensbergers Buch Der kurze Sommer der Anarchie an, das sich zwar Roman nennt, jedoch auch als Sachbuch durchgehen könnte, da es sich um ein chronologisches Puzzle von Augenzeugenberichten über die anarchistische Bewegung in Spanien, ihre Anführer Francisco Ascaso und Buenaventura Durruti (Bittermann schlägt den Bogen zum Punk mit der Band Durruti Column) und deren Aufstieg und Fall im ersten spanischen Bürgerkriegsjahr handelt.

Bittermanns Außenseiterstory ist auch die Geschichte einer verlorenen Jugend, die, im Rückblick betrachtet, so verloren nicht wirkt. Es gibt Schlimmeres, als in den 1980er Jahren shopliftend und joyridend durch Norditalien zu driften (zum Beispiel in den 1990ern in Berlin abzuhängen).

Im letzten Drittel, nachdem die Protagonisten getrennt sind, nimmt die Handlung nochmal richtig Fahrt auf. Es ist die literarisch beste Passage des Romans, in der Sid seine Nancy sucht und sich, ausgerechnet in Barcelona, damals wie heute ein anarchistisches Zentrum, der Kreis zu schließen scheint. Mehr sei nicht verraten, auch nicht über eine letzte schicksalhafte Wendung, die das Geschehen nimmt.

Bittermanns Roman liefert beste Unterhaltung, die an keiner Stelle in Kitsch, Pathos oder Sentimentalität abzugleiten droht. Er liest sich wie ein Roadmovie, in dem ständig etwas passiert (es hätte auch etwas weniger sein dürfen), und findet gegen Ende, auch das macht seinen Reiz aus, durchaus zu epischer Tiefe.


von Ralf Höller - 29. Oktober 2016
Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück
Klaus Bittermann
Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück

Ein Ausreißerroman
Edition Tiamat 2016
240 Seiten, broschiert
EAN 978-3893202119