Wenn die Familie zurückbleiben muss
Der "Preis für das beste Album" ging auf der diesjährigen Comicmesse in Angoulême an "La où vont nos pères". Der Australier Shaun Tan erzählt darin die Geschichte eines Mannes, der sich in der Ferne ein besseres Leben erhofft.
Ein Mann packt seinen Koffer, bedacht, sorgfältig und ohne Hast. Er tritt eine Reise an, von der er nicht zurückkommt, das weiß er ebenso gut wie seine Frau. Das Familienbild, sorgfältig in weißes Tuch geschlagen, liegt im Koffer obenauf. Ein letztes Mal tritt er mit seiner Familie, die ihn zum Bahnhof begleitet, aus dem Haus. Dort angekommen, drückt er seiner Tochter eine Taube aus Papier in die Hand und umarmt sie ein letztes Mal. Ihren sorgenvollen Blicken weicht er aus. Dann wendet er sich seiner weinenden Frau zu. Auch sie schließt er noch einmal in seine Arme, flüstert ihr die letzten warmen Worte ins Ohr und steigt dann in einen Zug. Den Zug nach Nirgendwo.
Shaun Tan vereinnahmt nicht einfach nur mit seinen Bildern, sondern er rührt an, wühlt auf, verstört und fasziniert - ohne ein einziges Wort. Wie Sepia-Schnappschüsse wirken seine Einzelbilder, die in seinem Album mit dem Titel "La où vont nos pères" ("Wo unsere Väter hingingen") die anonyme Geschichte eines Migranten erzählen. Die Ruhe und Stille der Bilder verleihen der Erzählung ihre Ausstrahlung und Faszination, die die Jury des diesjährigen französischen Comicsalons in Angoulême veranlasst hat, dem Album den Preis für das beste Album zu verleihen. Allein die Tatsache, dass im Nachhinein nicht wieder die große Debatte losgetreten wurde, ob ein Comic Text benötigt oder nicht, beweist die Qualität dieses Titels. Die Zeichnungen entwaffnen die Verfechter der comicalen Textverbundenheit. Keine sprachliche Sinfonie könnte Shaun Tan’s Geschichte auch nur annähernd so eindrucksvoll und berührend erzählen, wie dies seine Zeichnungen tun.
Mit diesem Comic erschuf der Australier, dessen Vater 1960 aus Malaysia den fünften Kontinent erreichte, nicht nur einfach eine Geschichte, sondern er erschuf Millionen Geschichten auf einmal. In "La où vont nos pères" findet sich jede einzelne Geschichte der Millionen Flüchtlinge, Arbeitsmigranten und Auswanderer des Heute und des Gestern, die alle das Bekannte zurücklassen müssen und sich aufmachen in ein riskantes Abenteuer, dessen Ausmaß sie nicht im Geringsten erfassen können. Shaun Tan’s Flüchtling ist DER Migrant unter den Migranten und erlebt exemplarisch das Schicksal der wandernden Millionen dieser Welt. Angekommen im "gesegneten Land" findet er sich in einer ihm völlig fremden Welt wieder. Dieses verheißene Land erinnert am ehesten an ein überdimensioniertes surreales Stilleben, welches zuweilen die Aura eines orwell’schen Überwachungsstaates umgibt. Die Fremde wirkt dabei zuweilen dermaßen erdrückend, dass dem Leser beim Betrachten des Geschehens schier die Luft wegbleibt. Nur mit Hilfe seiner Hände und Füße kann sich DER Migrant verständlich machen. Er trifft auch andere Flüchtlinge, die ähnliche Geschichten unter ihrem Herzen tragen, wie er es tut. Diese helfen ihm, anzukommen in einer völlig fremden Gesellschaft, Fuß zu fassen und sein Schicksal in die Hand zu nehmen - denn dafür ist er schließlich gekommen. Doch auch die beängstigenden Aspekte der Fremde hat Tan festgehalten; Xenophobie und das allgegenwärtige Gefühl, beobachtet zu werden, finden sich in den ausdrucksstarken Bildern Shaun Tan’s.
Vier geschlagene Jahre arbeitete der junge Australier an diesem Album, sammelte Erzählungen und Anekdoten von hunderten von Flüchtlingen und Migranten. Nur noch wenige Bilder haben seine Gesprächspartner von ihrer Zeit als Flüchtling gehabt, die Orte, wo sie lebten, gibt es inzwischen oft gar nicht mehr. Diese "vergessene Welt", die oft nur noch in den Erinnerungen der Migranten selbst ruhe, wollte er wieder auferstehen lassen, so Tan in einem Interview mit seinem französischen Verleger. Die Stille seines Comics ermöglicht es jedem Einzelnen, die ganz persönliche vergessene Welt wieder auferstehen zu lassen. Aber vor allem lässt sie dem Leser die nötige Zeit und den Raum, sich auf ihre ganz eigene Erzählung einzulassen. Die Zeichnungen können hier ihre Wirkung entfalten und ihr Tempo und Rhythmus werden nicht von der gewohnten Dominanz der wörtlichen Erzählung diktiert. Die Freiheit des Bildes ist hier so vollkommen, dass erst hier das Bild seine volle Wirkung entfalten kann. Wo es in anderen Comics zuweilen zu Unrecht hinter dem Text zurücksteht, bekommt hier das Bild seinen ihm gebührenden Rahmen. "La où vont nos pères" ist ein fulminantes und zugleich atemberaubendes Meisterwerk, das in diesem Jahr völlig zu Recht mit einem der renommiertesten Preise der Comicwelt ausgezeichnet wurde. Die Sprachlosigkeit der Bilder macht es zu einem universalen Geniestreich, dessen Aussage der chinesische Wanderarbeiter ebenso verstehen kann, wie der mexikanische Arbeitsmigrant. Wer etwas über das Wesen und die Herausforderung der Migration erfahren möchte, erfährt es nirgendwo eindrucksvoller, als in "La où vont nos pères".
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