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Sergio Álvarez: 35 Tote

Wer leben will, muss töten

Neun Jahre lang hat der 1965 in Kolumbien geborene Sergio Álvarez für seinen dritten Roman "35 Tote" recherchiert. Das Resultat dieser langatmigen Recherche zeigt sich und beeindruckt anhand der enormen Dichte von Ereignissen und Geschichten, die wirken, als würden sie immer eins zu eins erzählt, beim Lesen sitzt man gemeinsam mit den Betroffenen in einer Bar und lauscht deren unglaublichen Geschichten. Unfassbar sind die einzelnen Episoden und Schicksale tatsächlich, und gleichzeitig doch sehr repräsentativ für Kolumbien, mehr noch, repräsentativ für viele lateinamerikanische Länder und Politsysteme.

Der namenlose Protagonist, der seine Mutter bei der eigenen Geburt und seinen Vater in den Kindesjahren verliert, wächst bei seiner Tante und in einer marxistischen Kommune auf, sieht deren Verfall (sowohl denjenigen der Tante als auch denjenigen der Kommune), wandelt sich zum konsumsüchtigen Kleindieb und Drogendealer und wechselt später aus Geldnöten wiederum zum Militär, wo er seine einstigen Compañeros verfolgen muss und töten soll. "Wer in diesem Land niemanden getötet hat, der hat keine Zukunft" lautet das Motto des Romans, welches sich im Bezug auf den Ich-Erzähler auch bewahrheiten wird - dieser ist zum Töten nicht fähig und schlussendlich dazu gezwungen, Kolumbien zu verlassen und nach Spanien auszuwandern. Ernüchternd stellt er - bereits nach Halbzeit - fest: "Wenn so viele Menschen verschwinden, füllt sich das Leben mit Löchern; es ist niemand mehr da, dem man was erzählen, den man besuchen oder gar kritisieren kann, ein Teil des eigenen Lebens geht nach und nach verloren, und am Ende hat man nicht nur Angst, sondern weiβ gar nicht mehr, wer man ist."

Anhand vieler Charakteren und Einzelschicksale, die jeweils eng mit dem Protagonisten verwoben sind, zeigt sich, was für Lateinamerika typisch ist: Jegliche politische Gesinnung ist denkbar, solange Geld, Macht und Ruhm vorhanden sind. Dabei wäre das Rezept vielleicht ein leichtes: "Ich [betrachtete] das ganze fröhliche Durcheinander und dachte mir, dass man eigentlich gar nicht so viel zu reden brauchte, um ein Land zu verändern; es war auch mit ganz einfachen Mitteln zu erreichen, mit ein wenig Schnaps und einer guten Dosis Musik." Dass es einem mit Tanz und Alkohol alleine jedoch nicht vergönnt ist, an die Spitzen der Macht zu kommen, zeigen die unzähligen Verschwörungen, Bestechungen und Morde, anhand derer die jüngste Geschichte Kolumbiens aufgerollt wird. "35 Tote" spielt Ende des 20. Jahrhunderts, es ist die Zeit, in der zahlreiche Guerillagruppen entstanden sind, Paramilitärs und die Drogenmafia weite Teile des Landes kontrollierten und der Drogenkrieg in Kolumbien vollends eskalierte.

Erschreckend und mit dem Fortlauf der Geschichte doch etwas zermürbend sind nicht nur die zahlreichen und äusserst realistisch beschriebenen Morde, sondern auch das im Roman präsentierte Frauenbild. Frauen sind in erster Linie dazu da, die sexuellen Bedürfnisse des Mannes zu befriedigen, überzeugen demzufolge auch nur, wenn die Äusserlichkeiten stimmen. Sätze wie "In die 37. war ein Mädchen mit echt hässlichem Gesicht, aber supergeilen Titten, Hüften, Taille und Arsch gezogen, und die Jungs auf der Straβe fingen jedes Mal an zu lechzen, wenn sie sie sahen" ermüden spätestens ab der zweiten Romanhälfte. Gleichzeitig ist die Länge des Romans etwas problematisch, in der persönlichen Danksagung am Ende des Buches, dankt Álvarez seiner kleinen Tochter, "die [ihm] mit ihrem Lächeln und ihren ersten Worten zu verstehen gab, dass man bei jedem Buch einmal einen Schlusspunkt setzen muss." Genau diese Haltung ist dem Roman "35 Tote" anzumerken, das Buch ist mindestens hundert Seiten zu lang geraten, der Schlusspunkt scheint willkürlich gesetzt, er ergibt sich nicht aus der Handlung heraus und hätte genauso gut, beziehungsweise besser, viel früher gesetzt werden können.

Sergio Álvarez ist zweifelsohne ein grosser und grossartiger Geschichtenerzähler. Dass er dies ganz nahe an der Realität tut und nicht wegschaut, wenn es blutig und dreckig wird, beweist er mit "35 Tote", was ihm im Kontext seines Romans hoch angerechnet werden kann. Dennoch scheinen Vergleiche mit García Márquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" bereits aufgrund der Sprache, die bei Álvarez - ohne zu werten - nicht oberste Priorität zu haben scheint, ein bisschen sehr weit hergeholt.


von Regula Portillo - 03. September 2011
35 Tote
Sergio Álvarez
Marianne Gareis (Sprecher)
35 Tote

Suhrkamp 2011
Originalsprache: Spanisch
546 Seiten, broschiert
EAN 978-3518462508