Schwebende Schönheiten
Zu den faszinierendsten Lebewesen des Meeres gehören Seepferdchen, die nicht zu schwimmen, sondern zu schweben scheinen. Zugleich zählen sie auch zu den beliebtesten Tieren, die in großen Aquarien in zoologischen Gärten überall auf der Welt angeschaut, bestaunt und bewundert werden. Andrea Grill begibt sich in diesem Band auf eine meeresbiologische wie auch kulturhistorische Spurensuche, mit farbigen Anschauungen aus der Unterwasserwelt.
Die Autorin verbindet ihre Erkundung mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis zum Naturschutz, den sie dankenswerterweise nicht mit einer politischen Agenda verbindet – auch Befürworter von Windenergieanlagen, die nicht nur Landschaftsbilder nachhaltig verändern, sondern unter anderem auch für Massaker an Zugvögeln verantwortlich sind, möchten als Freunde der Umwelt wahrgenommen werden. Andrea Grill beschreibt ein Seepferdchen, das ein rosa Kunststoff-Wattestäbchen umfasst, im Hintergrund sind "helle Flecke", nämlich Plastiktaschen, zu sehen. Das Seepferdchen selbst ist kaum größer als der "Wattekopf des Stäbchens". Das Foto aus dem Sommer 2017 veranschaulichte deutlich die "Verschmutzung der Meere", mit politischen Konsequenzen in der EU: "Seit Juni 2021 dürfen Luftballonstäbe, Trinkhalme, Rührstäbchen, Wattestäbchen aus diesem Material nicht mehr produziert und in den Handel gebracht werden. Nie mehr soll ein Seepferd sich an ein in der EU hergestelltes Plastikteil klammern. Ein Seepferdchen brachte uns dazu, unsere Gesetze zu verändern. Auf Umwegen und ohne es zu beabsichtigen, indem es tat, was eben tut: Es ließ sich treiben. Nur diesmal haben wir ihm dabei zugesehen."
Seepferdchen lassen sich treiben – eigentlich ein auch für viele Menschen zwar nicht natürlicher, aber erträumter paradiesischer Zustand, nämlich nicht von Willensentscheidungen oder von Plänen, Vorhaben und Zielen getrieben zu sein. Seepferdchen schweben im Meer, zumindest sieht es für den Betrachter so aus. Die Autorin beschreibt zudem ihre Kommunikationsweisen. Tropische Seepferde vermögen zu "klicken", besonders bevor sie sich verpaaren: "Je näher sie dem Zeitpunkt der Vereinigung kommen, desto häufiger werden die Klicks. Die Männchen sind dabei lauter als die Weibchen. Hier lässt sich tatsächlich sagen: Es klickt zwischen ihnen." Mittels Highspeed-Fotografie wurde festgestellt, wie Seepferde bei einem Klick den Kopf zurückwerfen, so ließ sich das Klicken nachweisen. Ebenso können Seepferdchen knurren und schnurren, über Muskelkontraktionen, wenn sie Zufriedenheit signalisieren, aber auch dann, wenn sie in einen Netzkäfig gesperrt oder von Forschern in die Hand genommen werden – dass sie Letzteres kaum mögen, macht die Autorin leicht verständlich. Sie schreibt, das führe bei Seepferdchen zu Entsetzen: "Ich kann nur ahnen, welche Empfindung ein Seepferdchen als Entsetzen erleben und wie es davon sprechen würde. Ich nenne es Entsetzen, weil es mir das Gefühl zu sein scheint, das ich hätte, würde mich ein Seepferd, hundert Mal so groß wie ich, auf seine Flosse setzen."
Seepferde gehören zur Familie der Knochenfische. Sie besitzen ein "teilweise verknöchertes Skelett". Die Fische seien evolutionär verwandt: "Fische ähneln uns: Kopf, Wirbelsäule, Extremitäten. Wir kommen, wie sie, im Wasser zur Welt, mit Schwimmhäuten, die wir bis zur Geburt ablegen, wenn wir mit dem Bauch der Mutter auch den aquatischen Lebensstil verlassen. Wie sie müssen wir unsere Nahrung fangen oder filtern und andere Wesen verspeisen, um am Leben zu bleiben." Zugegeben, eine interessante Perspektive – auch wenn fraglich erscheint, ob das Aufzeigen dieser Verwandtschaftsverhältnisse fast ein wenig märchenhaft anmutet. Lebewesen, so verschieden sie aussehen und sich verhalten mögen, sind also weitläufig verwandt. Dennoch bestehen sehr große Unterschiede. Schließlich würden Seepferdchen, wären sie dazu imstande, vermutlich kaum Menschen in Aquarien ausstellen. Doch diese philosophisch getönten Überlegungen seien der Verfasserin zugestanden, da der Band auch kulturgeschichtliche Aspekte enthält – und hier werden, nicht mehr und nicht weniger, evolutionäre Verbindungslinien aufgezeigt.
Seepferdchen fressen beständig, denn sie haben keinen Magen – und "verdauen so schnell, dass sie nonstop fressen müssen, um nicht zu verhungern". Zudem verändern sie sich im Vergleich zu anderen Fischen schnell, passen sich an neue Umgebungen an und können sich tarnen, durch die Stacheln etwa verschmelzen sie mit dem Hintergrund, abhängig vom Lebensraum: "Seepferde verteidigen sich durch Verschwinden. Ihre Waffen sind das Unsichtbarwerden, das Sich-Verwandeln-in-Umgebung. Auch ihre Reglosigkeit gehört dazu." Andrea Grill wirbt dafür, alle Lebewesen, so auch die Seepferdchen, als "ebenbürtig" wahrzunehmen. Für die Erde seien Menschen "nicht wichtiger als Plankton", aber trotz der "eigenen Unwichtigkeit" bestehe ein hohes Maß an Verantwortung aufgrund des Einflusses und der Fähigkeiten "für alles, was auf unserem Planeten lebt": "Über Seepferdchen nachzudenken heißt, über alle wichtigen Themen auf der Erde nachzudenken, über den Planeten als Einheit. Die Weltmeere stehen miteinander in Verbindung, und die Meere wieder mit dem Land, und das Land mit der Luft. Wir und die Seepferde atmen Luft." Diese ganzheitliche Sichtweise spürt der Leser immer wieder in diesem kenntnisreichen, klugen Band über Seepferdchen. So stellt die Autorin behutsam philosophische Betrachtungen an und hegt ökologische Absichten. Naturschutz ist in jeder Weise begrüßenswert und unverzichtbar. Konkrete Umweltpolitik steht dazu oft in einem diametralen Gegensatz. Andrea Grills Band zeigt die Schönheit der Seepferdchen und stellt diese von uns bewunderten Lebewesen in ihrer Vielfalt anschaulich und sympathisch vor.
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