https://www.rezensionen.ch/sebastian-schuetze-caravaggio/383650183X/

Sebastian Schütze: Caravaggio

Wo viel Licht, da auch viel Schatten

Im Gegensatz zur Historiographie eines Michelangelo, der etwa in Giorgio Vasari einen wohlwollenden Biographen hatte, ist Caravaggios Biographie von Distanzierung und Verdammung gekennzeichnet, aus dem sicherlich auch der Neid seiner Kritiker sprach. Erschwerend hinzu kommt, dass kein einziges Selbstzeugnis Caravaggios erhalten ist, nicht einmal ein Brief. Aus diesem Grund muss man sich wohl auf seine zeitgenössischen Biographen verlassen, die aber, wie Sebastian Schütze, derzeit Professor für Kunstgeschichte in Wien, erläutert, aufgrund ihrer Befangenheit gegenüber ihrem Untersuchungsobjekt, nur eingeschränkt glaubwürdig sind. "Wir wissen kaum etwas über Caravaggios Ausbildung, über seinen Bildungshorizont oder gar seine religiösen Überzeugungen." Caravaggios Leben zeigt - so wie seine Gemälde - viel Licht und viel Schatten. Kein anderer vermochte es so genial, diese beiden Gegensätze zu vereinen und wer heute vor seinen Gemälden steht, fühlt sich fast wie im Kino, so lebensnah wirkt seine fantastische Malerei, die sich nicht nur durch ihre Farben, sondern auch durch ihre Motivwahl auszeichnen. Zum 400. Todestag des Malers ist nun im TASCHEN Verlag eine monumentale Werk-Biographie erschienen, die nicht nur seine Gemälde in Detail- und Ganzaufnahmen zeigt, sondern sich auch mit seinem unsteten Lebenswandel beschäftigt.

Der Maler als Mörder

Als gesichert gilt in jedem Fall Caravaggios oft zitierter "unsteter Lebenswandel" und dass er seine Ausbildung bei Simone Peterzano in Mailand Ende des 16. Jahrhunderts absolviert hatte. Um wirklich etwas über Caravaggio zu erfahren, muss man sich also tatsächlich seinem Werk widmen und sich ihm vollends ausliefern, denn außer ein paar Eckdaten gibt seine Biographie nicht viel her. Derek Jarmans Film (1986) versuchte, sich auf eine ganz moderne Art und Weise dem Malergenie anzunähern, er filmte eine Art "Passion Caravaggio", die den Leidensweg Christi als Caravaggio nachzeichnet, eines unglückseligen Malers, der am Ende seines Lebens sogar unabsichtlich zum Mörder wurde und sich vor der Justiz verstecken musste, bis er an Malaria starb. Im Alter von noch nicht ganz 39 Jahren. Interessant ist aber auch der Hinweis des Kunstgeschichtlers Sebastian Schütze, dass noch sehr viele Zeugnisse von Künstlern erhalten sind, die sich in ihren eigenen Werken mit Caravaggio auseinandersetzten oder ihn interpretierten. Auch das könnte also eine Quelle sein, das Mysterium des Malers näher zu erkunden, für all jene, denen das Werk selbst nicht ausreicht. "Jeder Versuch, sich der historischen Person Caravaggios und seinem bahnbrechenden künstlerischen Werk zu nähern, ist notwendig Interpretation und bringt die Perspektive des Interpreten zum Tragen", schreibt Schütze. Am besten ist es natürlich immer, das Werk selbst sprechen zu lassen, was in der großformatigen Prachtausgabe des TASCHEN Verlages sicherlich mehr als redlich gelungen ist.

Radikale Zuspitzung in Komposition und narrativer Struktur

Im ersten Kapitel widmet sich der Biograph den "lombardischen Anfängen", den Werken die in der Schule von Peterzano in Mailand, Lombardei vor 1592 entstanden sind. Der damals etwa 20-jährige Michelangelo Merisi da Caravaggio (sein "Nachname" ist eigentlich sein Herkunftsort, ital. "da" bedeutet: "aus") brach danach nämlich nach Rom auf. 1590 wurden der junge Michelangelo und seine beiden Geschwister zu Vollwaisen und mit dem Kapital aus ein paar veräußerten Grundstücken der Familie machte er sich in die Tiberstadt auf. Peterzano rühmte sich ein Nachfolger Tizians zu sein, von seinen Werken sind allerdings wenige erhalten und es ist fraglich, wie viel Caravaggio wirklich von Peterzano in seinen vier Lehrjahren gelernt haben könnte. Sicherlich aber stand er unter dem Einfluss der cultura borrommaica, benannt nach dem Erzbischof von Mailand Carlo Borromeo und seinem Sohn, der ihm nach dem Tod auf sein Amt nachfolgte (!). Die Implikationen der Borromeos auf die Interpretation der religiösen Kunst durch Caravaggio werden vom Autor zwar angezweifelt, nicht aber völlig negiert wie auch die Sforzas, das regierende Geschlecht, mit der die Familie Caravaggios bekannt war. Costanza Sforza Colonna war es auch zu verdanken, dass Caravaggio nach dem Händel mit Ranuccio Tomassoni, bei dem er eigentlich nur seinen Freund Longhi verteidigen wollte, auf ihren Ländereien nahe Neapel Unterschlupf fand. Bezüglich Caravaggios Malerei lässt sich für seine lombardische Periode sicherlich der Einfluss des Naturalismus und "eine radikale Zuspitzung in Komposition und narrativer Struktur", wie Sebastian Schütze schreibt, ausmachen.

Vom Blick der Medusa gebannt

Zwischen 1596/97 entstand das wohl bekannteste Caravaggio-Bild, "Bacchus", das heute in den Uffizien in Florenz hängt und auf in Rom in diesem Frühjahr stattgefundenen großen Caravaggio-Ausstellung leider gefehlt hat. Der auf einem Matratzenlager halb liegende Bacchus reicht dem Betrachter einen Kelch und sitzt dabei vor einem Früchtekorb, seine Fingernägel schmutzig, sein Blick herausfordernd und provokant. Porträt und Stilllebenmalerei verknüpfen sich hier zu einem einzigartigen Ensemble, das Caravaggio auch oft den Vorwurf homoerotischer Neigungen eingebracht hatte oder zumindest die seiner Auftraggeber. Entgegen diesen Interpretationen sind die Beziehungen des Malers zu der Kurtisane Fillide Melandroni und einer mysteriösen "Lena" jedoch dokumentiert, der Maler war also zumindest bisexuell, wie er auch sonst so viele Gegensätze in sich vereinigte: Caravaggio arbeitete zwar für den Kardinal Del Monte streifte des nächtens jedoch durch Tavernen, Spielcasinos und Bordelle, was ihn nicht nur einmal in Konflikt mit dem Gesetz brachte. Del Monte protegierte den jungen Künstler und verschaffte ihm nicht nur viele private Kontakte und Auftraggeber, sondern auch seinen ersten öffentlichen Auftrag, die Seitenbilder der Cappella Contarelli in Rom. Erschreckend ist das ebenfalls in dieser Zeit entstandene "Selbstbildnis als Bacchus" (1593/94), das einen geradezu grün angelaufenen, gealterten Mann zeigt, der sich an ein paar Weintrauben festhält, als wären sie seine letzte Rettung. Dieses Gemälde ist in der Galleria Borghese in Rom im Original zu bewundern, ebenso wie das leicht mit dem Bacchus zu verwechselnde "Knabe mit dem Früchtekorb" desselben Datums. In dieser künstlerischen Schaffensphase - unter den Auspizien Del Montes - entstanden auch viele Musikerporträts, wie etwa der "Lautenspieler" u. a. Aber Caravaggio fand auch bald zu ganz eigenen Sujets, wie etwa den von der Commedia dell`Arte beeinflussten "Kartenspieler" oder die "Wahrsagerin". Seine spektakulärsten Bilder wie etwa "Narziss" und "Medusa" erregten auch die Aufmerksamkeit Ferdinando de Medicis. Sebastian Schütze schreibt über dieses "Porträt": "Der schöpferische Pinsel des Künstlers hat den versteinernden Blick der Medusa im Spiegel des Schildes fixiert und dabei mit solch dramatischer Lebendigkeit versehen, dass der staunende Betrachter vor Schrecken und Bewunderung vor dem Bild selbst erstarrt."

Visionäre Kraft und Staunen erregende Virtuosität

In zwei weiteren Kapiteln stellt Sebastian Schütze auch das religiöse Werk und Caravaggios Spätwerk in Süditalien vor. Im Epilog "Caravaggio als Ausstrahlungsphänomen" erläutert der Autor die Bedeutung des Malers für die heutige Zeit. Als "Caravaggesken" bezeichnet Schütze etwa auch die Nachgeborenen Künstler Peter Paul Rubens, Guido Reni, Diego Velazquez, Guercino und Pietro de Cortona. Caravaggios Vermächtnis umschreibt er mit den Worten, dass er "mit seinen revolutionären Bilderfindungen den künstlerischen Nerv seiner Zeit im Innersten berührte, ja dem Zeitgeist vorauseilte und der neuzeitlichen Malerei Perspektiven öffnete, die erst im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zur vollen Entfaltung kommen sollten. Als aktuellsten der Alten Meister wird Caravaggio zudem von Schütze bezeichnet, der sich vor allem durch seine "visionäre Kraft und Staunen erregende Virtuosität" von anderen seiner Zeitgenossen wohltuend abhebt. Zusätzlich gibt es einen Katalog aller Gemälde und ein Literaturverzeichnis im Anhang, sowie natürlich prächtige, teilweise ausklappbare Reproduktionen der Gemälde Caravaggios in unschlagbarer Brillanz.

Der TASCHEN Verlag zeigt das Gesamtwerk Caravaggios sowohl in Detailaufnahmen wie auch ein Einzelporträts in einem Format, das dem Maler mehr als gerecht wird, denkt man an seine überdimensionalen Gemälde etwa des ans Kreuz geschlagenen Petrus. Der zur Kreuzigung mit dem Kopf nach unten ausgerichtete Petrus scheint aus dem Bild heraus zu fallen, so beeindruckend plastisch ist seine Darstellung gelungen, dass man ihm, dem Gefallenen, beinahe aufhelfen möchte. Die Verwunderung über das Geschehene, die sich in seinem Gesicht spiegelt, lässt den Betrachter erstarren. Wer sich davon überzeugen möchte muss nach Rom in die "Santa Maria del Popolo" Kirche pilgern, aber so nahe wie in vorliegendem Bildband, wird der Betrachter keinem der Gemälde je kommen können. Das Spiel mit Licht und Schatten beherrscht Caravaggio wie kein anderer und es mag sicherlich die dunkle Aura seiner Gemälde sein die neben seiner undurchschaubaren Biographie noch so manchen weiteren Glanz auf seine Gemälde hauchen.


von Juergen Weber - 21. August 2010
Caravaggio
Sebastian Schütze
Caravaggio

The Complete Work
Taschen 2009
306 Seiten, gebunden
EAN 978-3836501835