Brunettis Ahnherr entdeckt
Die Kulisse des winterlichen Venedigs und die latente Frivolität seines
gesellschaftlichen Lebens, die Habsburgerzeit rund um die faszinierende
Gestalt der Kaiserin Elisabeth und eine sich anbahnende Liebesgeschichte
klingen als Hintergrund eines Romans wenig neu und
spektakulär. Und wenn dann die Hauptfigur auch noch in Gestalt eines
rührigen Commissarios, halbherzig, aber seriös in seiner venezianischen
Questura arbeitend, aufgerieben durch Korruption und Filz, daherkommt,
scheint die Frage nahe liegend: Greift da jemand auf Bekanntes und Bewährtes
zurück?
Dieser Jemand ist ein ebenso kultivierter wie angegrauter Herr namens
Nicolas Remin, studierter Literaturwissenschafter, Philosoph und
Kunsthistoriker, in der Lüneburger Heide und in der Toskana lebend, lesend
und schreibend. Sein Debütroman "Schnee in Venedig" soll der Auftakt einer
Serie um Commissario Tron, den letzten Spross eines verarmten venezianischen
Adelsgeschlechts, sein.
Auf einem österreichischen Dampfer, der von Triest nach Venedig unterwegs
ist, geschehen während einer stürmischen Nacht zwei Morde: Ein kaiserlicher
Hofbeamter und eine junge Frau werden tot in einer Kabine der ersten Klasse
entdeckt. Commissario Alvise Tron wird mitten aus den Vorbereitungen für den
Maskenball in seinem Palazzo gerufen und beginnt mit den Ermittlungen. Schon
bald allerdings wird er von höherer Stelle kalt gestellt; mit der
Begründung, die Morde stünden im Zusammenhang mit einem geplanten Attentat
auf die in Venedig weilende Kaiserin, übernimmt die österreichische
Militärpolizei den Fall. Trotz anders lautender Anweisungen seines
Polizeipräsidenten ermittelt Tron auf eigene Faust weiter und entdeckt
Abgründe menschlichen Trachtens.
Aus dem Hintergrund von zwei mutigen Frauen, der Principessa di Montalcino
und der jungen Kaiserin Elisabeth, unterstützt, lässt sich der Commissario
nicht mehr von seinem Weg abbringen, auch dann nicht, als er selber in
höchster Gefahr schwebt.
Nicht alles ist Remin auf seinen ersten dreihundertfünfzig Seiten vollends
geglückt. Es bleibt etwa schleierhaft, weshalb er in seinen Kapiteln
konsequent die Zeitformen ändert. Es verwirrt, wenn die Kaiserin jeweils in
der Gegenwart lebt, einige Seiten später der Haupttäter aber in wechselnden
Vergangenheitsformen mordet.
Die eine oder andere Szene mutet etwas seltsam an, entbehrt gar einer
gewissen Logik, ohne dass sich dies allerdings gravierend auf die Handlung
auswirkt.
Wer das Buch am Schluss zufrieden zuklappt, mag sich zudem fragen, ob das
Happyend so süss ausfallen musste.
Abgesehen von diesen Schönheitsfehlern, bereitet das Buch viel Spass. Man
wird entführt in eine fast vergessene, sinnliche Zeit, begleitet von einer
gepflegten, bildhaften Sprache und einer sorgfältig aufgebauten und
entwickelten Handlung.
Es wird interessant sein, den Debütanten Nicolas Remin in den kommenden
Jahren zu begleiten. Es scheint, als hätte sich der zurückhaltend und
stilvoll wirkende Literat und Philosoph viel Zeit für seinen Erstlingsroman
gelassen. Und man darf wohl getrost davon ausgehen, dass der Autor, der sein
Leben eigenen Angaben zufolge hauptsächlich lesend verbracht hat, hohe
Ansprüche an sich und sein literarisches Schaffen stellt.
Commissario Tron hat als Hauptfigur durchaus Potential. Eingebunden in ein
authentisches geschichtliches Umfeld, und als glaubwürdige Gestalt in seiner
Persönlichkeit und seinen Beziehungen zunehmend entfaltet, kann er uns in
den weiteren Folgen der Serie viel Freude bereiten.
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